Fachbereich Sozialpädagogik
Diplomarbeit
Alte Menschen und die
Relevanz des
Erzählens im Altenheim
Claudia ONIDA
Musterstrasse 123
12345 Musterstadt
Betreuer: Dr. phil. habil. Winfred
Kaminski
Zweitprüfer: Prof. Dr. phil. Volker Schmidt-Kohl
Abgabetermin: 13. Juli 1999
SS 1999
Vorwort
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mir bei der Erstellung und Verwirklichung der Diplomarbeit und der praktischen Durchführung der Erzählcafés geholfen haben.
Ohne die Mitwirkung vieler Beteiligten hätte das Erzählcafé nicht ins Leben gerufen werden können.
Insbesondere möchte ich mich bei den Bewohnern und Mitarbeitern des Alten- und Pflegeheims Haus X für die Interviews, die Teilnahme am Erzählcafé und für Tipps, Anregungen, Verbesserungsvorschläge, Unterstützung und Literaturhinweise bedanken.
Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass die betreffenden Quellennachweise in der Diplomarbeit, der Übersichtlichkeit halber, in Form von Zahlen in eckigen Klammern hinter den Abschnitten aufgeführt sind. Die dazugehörigen Quellen sind im Anhang zu finden.
Ferner ist diese Diplomarbeit unter Berücksichtigung der neuen Rechtschreibung erstellt worden, daher kann es teilweise zu Irritationen kommen.
Die ausschließliche Benennung der gebräuchlichen männlichen Bezeichnung, wie zum Beispiel: Mitarbeiter und Bewohner, schließt weibliche Personen mit ein. Diese Formulierung ist der Einfachheit halber gewählt und möchte das weibliche Geschlecht weder ausschließen noch diskriminieren.
Inhaltsverzeichnis
I Einleitung .......................................................................................................... 6
II Ausarbeitung................................................................................................... 9
A
Motivation....................................................................................................................................................
B Demographische Entwicklung......................................................................................................
1 Einleitung zur demographischen Entwicklung..............................................................
2 Recherche.................................................................................................................................................
2.1 Das Statistische Bundesamt.............................................................................................................
2.2 Die Ansicht des AWO-Bundesverbandes.......................................................................................
2.3 Darstellung des Bundesinstituts für
Bevölkerungsforschung...................................................
2.4 Der Anteil der Alten an der Bevölkerung
im historischen Rückblick.....................................
2.5 Das Bundesministerium für Familie,
Frauen, Senioren und Jugend.......................................
2.5.1 Durchschnittsalter der Bevölkerung im Rückblick........................................................................
2.5.2 Faktoren, die die Lebenserwartung beeinflussen...........................................................................
2.5.3 Prozentualer Anteil der Alten an der Bevölkerung.........................................................................
2.6 Der Alterungsprozess regionalabhängig......................................................................................
2.7 Statistik aus dem Bergischen Land................................................................................................
2.8 Der Alterungsprozess auf der gesamten
Welt...............................................................................
2.9 Gründe für die demographische Alterung....................................................................................
3 Resümee aus der Betrachtung der demographischen Entwicklung.................
4 Wohnformen im Alter......................................................................................................................
4.1 Wohnen in Institutionen...................................................................................................................
4.2 Das Altenheim....................................................................................................................................
4.3 Das Pflegeheim...................................................................................................................................
4.4 Rechtliche Grundlagen für Heimbewohner..................................................................................
4.5 Vorstellung eines Alten- und Pflegeheims....................................................................................
C Definition Alter.......................................................................................................................................
1 Verschiedene Begriffsdefinitionen...........................................................................................
2 Eigene Gedanken zum Begriff „Alter“.....................................................................................
3 Betrachtungen zum Thema Alter in der Literatur.....................................................
4 Grundsätze der Sozialpädagogik zur Arbeit mit alten Menschen...................
D Die Alterstheorien................................................................................................................................
1 Gerontologie..........................................................................................................................................
1.1 Sicht der Biologen.............................................................................................................................
1.2 Sicht der Psychologen......................................................................................................................
1.3 Sicht der Soziologen.........................................................................................................................
2 Biologische Alterstheorien.........................................................................................................
2.1 Altern auf Zellebene..........................................................................................................................
2.1.1 Genetisch orientierte Ansätze.........................................................................................................
2.1.1.1 Allgemein genetisches Modell des Alterns...............................................................................
2.1.1.2 Altern durch somatische Mutation..........................................................................................
2.1.1.3 Die Fehlertheorie....................................................................................................................
2.1.2 Metabolisch orientierte Ansätze.....................................................................................................
2.1.2.1 Die Deprivationstheorie..........................................................................................................
2.1.2.2 Akkumulationstheorie.............................................................................................................
2.1.2.3 Altern durch freie Radikale.....................................................................................................
2.1.2.4 Programmtheorie...................................................................................................................
2.2 Altern auf Organebene.....................................................................................................................
2.2.1 Altern durch Störung der Schilddrüsenfunktion.............................................................................
2.2.2 Altern durch Störung der Hypophysenfunktion..............................................................................
2.2.3 Ein allgemeines neurophysiologisches Modell des Alterns............................................................
D Die Alterstheorien
2 Biologische Alterstheorien
2.3 Altern auf Organismusebene...........................................................................................................
2.3.1 Altern durch Störungen des Nervensystems...................................................................................
2.3.2 Altern infolge gestörter Temperaturregulation..............................................................................
2.3.3 Altern durch Störungen im endokrinen Kontrollsystem.................................................................
2.3.4 Die Stress-Theorie.........................................................................................................................
3 Psychologische Alterstheorien................................................................................................
3.1 Das Defizit-Modell der geistigen
Entwicklung............................................................................
3.2 Die kognitive Alterstheorie.............................................................................................................
4 Sozialpsychologisch orientierte Alterstheorien........................................................
4.1 Die Aktivitäts - Theorie....................................................................................................................
4.2 Die Disengagement - Theorie..........................................................................................................
4.3 Ein ökologisches Modell des Alterns............................................................................................
E Theorie der Lebensphasen.................................................................................................................
1 Stadium: Frühkindliches Alter..................................................................................................
2 Stadium: Kindheit................................................................................................................................
3 Stadium: Adoleszenz........................................................................................................................
4 Stadium: Erwachsenenalter.......................................................................................................
5 Stadium: Lebensmitte.......................................................................................................................
6 Stadium: Alter......................................................................................................................................
7 Stadium: Hohes Alter.......................................................................................................................
8 Resümee......................................................................................................................................................
F Erzählen........................................................................................................................................................
1 Wo wird erzählt?...............................................................................................................................
2 Was wird erzählt?.............................................................................................................................
3 Wer erzählt?..........................................................................................................................................
4 Über das Erzählen..............................................................................................................................
5 Über das Zuhören................................................................................................................................
6 Erzählen als Therapie.....................................................................................................................
7 Das Medium Erzählen in der Gegenüberstellung zu anderen Medien...............
G Die Bedeutung des Erzählens in anderen
Kulturen.........................................................
1 Die Bedeutung des Erzählens bei den Eskimos und den
Alaska-Indianern.....
2 Erzählen in afrikanischen Kulturen....................................................................................
3 Erzählen in Asien.................................................................................................................................
3.1 Taiwan.................................................................................................................................................
3.2 China...................................................................................................................................................
3.3 Japan...................................................................................................................................................
3.4 Indien...................................................................................................................................................
4 Erzählen in Europa: deutschsprachige Gegenden vor ca. 100 Jahren.................
4.1 Erzählkreise in dörflichen
Gemeinschaften..................................................................................
4.2 Die Bedeutung des Erzählens für
Saisonarbeiter........................................................................
4.3 Die Bedeutung des Erzählens für die
Schwabengänger............................................................
4.4 Die Bedeutung des Erzählens für die
Holzfäller..........................................................................
4.5 Die Bedeutung des Erzählens für die
Arbeiter in Ungarn.........................................................
4.6 Erzählen in Gefängnissen................................................................................................................
4.7 Das Erzählen unter den Zigeunern................................................................................................
4.8 Die Bedeutung des Erzählens für die
Bergleute..........................................................................
4.9 Das Erzählen unter den Bauern......................................................................................................
4.10 Die Erzähler in Europa..................................................................................................................
4.11 Märchenerzähler in Russland.......................................................................................................
4.12 Erzählen in Großbritannien..........................................................................................................
5 Der Transfer in unsere heutige Gesellschaft...................................................................
H Die Relevanz des Erzählens..........................................................................................................
1 Relevanz des Erzählens für den Menschen......................................................................
2 Relevanz des Erzählens für den alten Menschen.......................................................
3 Relevanz des Erzählens im Altenheim................................................................................
4 Die Planung der Interviews.........................................................................................................
4.3 Das Interview mit den Mitarbeitern.............................................................................................
4.3.1 Auswahl der Befragten.................................................................................................................
4.3.1.1 Begründung für Interviews mit Pflegedienstmitarbeitern..........................................................
4.3.1.2 Begründung für Interviews mit dem Sozialen Dienst................................................................
4.3.2 Methode der Befragung................................................................................................................
4.3.3 Interviewfragen an die Mitarbeiter..............................................................................................
4.4 Das Interview mit den Bewohnern...............................................................................................
4.4.1 Auswahl der Befragten.................................................................................................................
4.4.2 Methode der Befragung................................................................................................................
4.4.3 Interviewfragen an die Bewohner................................................................................................
5 Durchführung der Interviews..................................................................................................
5.1 Mitarbeiter.......................................................................................................................................
5.1.1 Heimleiter.....................................................................................................................................
5.1.2 Sozialpädagoge............................................................................................................................
5.1.3 Altenpflegerin...............................................................................................................................
5.1.4 Ergotherapeutin...........................................................................................................................
5.1.5 Arzt...............................................................................................................................................
5.2 Bewohner..........................................................................................................................................
5.2.1 Altersstrukur der befragten Bewohner.........................................................................................
5.2.2 Aufenthaltsdauer der befragten Bewohner im Heim....................................................................
5.2.3 Art der Sozialkontakte..................................................................................................................
5.2.4 Die Relevanz des Erzählens.........................................................................................................
I Erzählcafé Recherche und Vorbetrachtungen..............................................................
1 Stadtteilbezogene Erzählarbeit...........................................................................................
2 Was ist ein Erzählcafé..................................................................................................................
2.1 Recherche im Internet.....................................................................................................................
2.1.1 Zwei Kölner Erzählcafes:.............................................................................................................
2.1.2 Ein Erzählcafé in Wuppertal........................................................................................................
2.1.3 Erzählfestival in der Akademie Musterstadt..................................................................................
2.1.4 Das DRK-Erzählcafé in Hürth.....................................................................................................
2.1.5 Das Erzählcafé in Limburg..........................................................................................................
2.1.6 Erzählcafe Frankfurt....................................................................................................................
2.1.7 Erzählcafé in der Volkshochschule Leipzig..................................................................................
2.1.8 Das Erzählcafé der Volkshochschule Augsburg..........................................................................
2.1.9 Das Erzählcafé der Seniorenvereinigung Papenburg..................................................................
2.2 Literaturrecherche..........................................................................................................................
3 Ziele des selbst geplanten Erzählcafés im Alten- und Pflegeheim..................
3.1 Richtziele..........................................................................................................................................
3.2 Grobziele...........................................................................................................................................
3.3 Feinziele............................................................................................................................................
4 Auswahl der Teilnehmer.............................................................................................................
5 Rahmenbedingungen zum Erzählen......................................................................................
J Erzählcafé Praktische Durchführung.................................................................................
1 1. Erzählcafé........................................................................................................................................
1.1 Planung.............................................................................................................................................
1.1.1 Die Einladungskarten..................................................................................................................
1.1.2 Auswahl des Raumes....................................................................................................................
1.1.3 Beschreibung des Raumes............................................................................................................
1.1.4 Die Raumgestaltung.....................................................................................................................
1.1.5 Die Tischkarten............................................................................................................................
1.1.6 Absprache mit der Küche.............................................................................................................
1.1.7 Inhaltliche Vorbereitung auf das Erzählcafé................................................................................
1.1.8 Thema des Erzählcafés................................................................................................................
1.1.9 Ziel des Nachmittags....................................................................................................................
1.1.10 Beginn des Nachmittags.............................................................................................................
1.1.11 Ausklang des Nachmittags.........................................................................................................
1.1.12 Reflexion.....................................................................................................................................
1.2 Durchführung...................................................................................................................................
1.2.1 Vorbereitungen für den 1. Nachmittag.........................................................................................
1.2.2 Beginn des Nachmittags...............................................................................................................
1.2.3 Thema des Erzählcafés................................................................................................................
1.2.4 Ausklang des Nachmittags...........................................................................................................
1.3 Reflexion...........................................................................................................................................
1.3.1 Negative Kritikpunkte..................................................................................................................
1.3.2 Konsequenzen aus der negativen Kritik.......................................................................................
1.3.3 Positive Kritikpunkte....................................................................................................................
2 2. Erzählcafé........................................................................................................................................
2.1 Planung.............................................................................................................................................
2.1.1 Auswahl des neuen Raumes.........................................................................................................
2.1.2 Beschreibung des Raumes............................................................................................................
2.1.3 Die Raumgestaltung.....................................................................................................................
2.1.4 Die Einladungskarten..................................................................................................................
2.1.5 Thema des Erzählcafés................................................................................................................
2.1.6 Ziel des Nachmittages..................................................................................................................
2.2 Durchführung...................................................................................................................................
2.2.1 Vorbereitung für das 2. Erzählcafé..............................................................................................
2.2.2 Beginn des 2. Nachmittags...........................................................................................................
2.2.3 Thema des 2. Erzählcafés............................................................................................................
2.2.4 Ausklang des 2. Nachmittags.......................................................................................................
2.3 Reflexion...........................................................................................................................................
2.3.1 Negative Kritikpunkte / Verbesserungsvorschläge......................................................................
2.3.3 Positive Kritikpunkte....................................................................................................................
2.3.4 Das Thema des Nachmittags.......................................................................................................
2.3.5 Ziele des Nachmittags..................................................................................................................
2.3.6 Der Ausklang des Nachmittags....................................................................................................
3 3. Erzählcafé........................................................................................................................................
4 4. Erzählcafé........................................................................................................................................
5 Reflexion der Erzählcafés.........................................................................................................
6 Fotogalerie...........................................................................................................................................
7 Ausblick..................................................................................................................................................
III Schlussbetrachtungen....................................................................... 221
IV Anhang........................................................................................................... 222
A Interviews.................................................................................................................................................
1 Der Heimleiter......................................................................................................................................
2 Der Sozialpädagoge........................................................................................................................
3 Die Altenpflegerin............................................................................................................................
4 Die Ergotherapeutin........................................................................................................................
B Gesetzliche Grundlagen.................................................................................................................
1 Das Heimgesetz....................................................................................................................................
2 Die Pflegeversicherung..................................................................................................................
C Quellennachweis.................................................................................................................................
1 Literaturverzeichnis......................................................................................................................
2 Zeitschriften........................................................................................................................................
3 Internet - Links....................................................................................................................................
4 Weitere Quellen..................................................................................................................................
D Abbildungs- und Tabellenverzeichnis..................................................................................
1 Abbildungsverzeichnis..................................................................................................................
2 Tabellenverzeichnis........................................................................................................................
E Eidesstattliche Erklärung...........................................................................................................
I
Einleitung
Die vorliegende Diplomarbeit „Alte Menschen und die Relevanz des Erzählens im Altenheim“ läßt sich grob in zwei Schwerpunktthemen unterteilen:
Der erste Teil der Diplomarbeit „Alte Menschen“, beschäftigt sich eingehend mit dem Alter.
Der zweite Schwerpunkt der Diplomarbeit behandelt das Thema: „Erzählen“.
Schließlich führen die Gebiete „Alte Menschen im Heim“ und das „Erzählen“ zur Diskussion der „Relevanz des Erzählens im Altenheim“.
Die Ausarbeitung wird durch die Erläuterung zur Motivation zum Thema in Kapitel A eingeleitet.
Kapitel B beschäftigt sich mit der Betrachtung zur demographischen Entwicklung der Bevölkerung, ihrem Durchschnittsalter und der Prognose zum Anteil alter Menschen an der Bevölkerung in den kommenden Jahren. Ferner werden die Lebenserwartung und deren beeinflussende Faktoren genannt. Im Anschluss daran werden verschiedene Wohnformen im Alter vorgestellt unter besonderer Berücksichtigung eines Alten- und Pflegeheims, in dem auch die praktische Durchführung dieser Diplomarbeit erfolgte.
Das „Alter“ wird im Kapitel C näher definiert. Neben den verschiedenen Begriffsdefinitionen und Betrachtungen in der Literatur werde ich auch eigene Gedanken zum Alter und die Grundsätze der Sozialpädagogik zur Arbeit mit alten Menschen vorstellen.
Darüber hinaus wird im Kapitel D eingangs der Begriff Gerontologie näher erläutert und im Anschluß daran die Sichtweisen der verschiedenen Disziplinen vorgestellt. Im einzelnen erläutere ich die wichtigsten biologischen Alters-theorien sowie die psychologischen und die sozialpsychologisch orientierten Theorien.
Die verschiedenen Lebensphasen der Theorie des Psychologen Eric Erikson kommen in Kapitel E zur Sprache. Sie leiten in der letzten Phase, „das hohe Alter“, nach Naomi Feil durch das Resümee zum zweiten Schwerpunkt der Diplomarbeit über: „Die Relevanz des Erzählens“.
Im Kapitel F werden die Grundlagen zum Thema „Erzählen“ erläutert und anderen Medien gegenüber gestellt.
Darüber hinaus wird die Bedeutung des Erzählens in anderen Kulturen im Kapitel G dargelegt. Vor dem Transfer in unsere heutige Gesellschaft, werde ich ausführlich die Bedeutung des Erzählens in Europa und deutschsprachigen Gegenden vor ca. 100 Jahren diskutieren.
Kapitel H schließlich beschäftigt sich mit der Relevanz des Erzählens für den Menschen. Hierbei wird von allgemeinen Betrachtungen aus übergeleitet zu der Relevanz des Erzählens für alte Menschen hin zu dem speziellen Thema, der Relevanz des Erzählens im Altenheim. Um die Bedeutung des Erzählens im Altenheim näher untersuchen zu können, führe ich im Folgenden Interviews im Altenheim durch. Ich stelle die Auswahl der befragten Mitarbeiter und Bewohner sowie die Methode der Befragung und die Inhalte der Interviews vor. Im Anschluss daran werden sinngemäß und stichpunktartig die Aufgabenbereiche und Sichtweisen zum Erzählen der Mitarbeiter des Altenheims deutlich gemacht. Die wortwörtlich wiedergegebenen Originalinterviews befinden sich im Anhang. Die soziographischen Daten und die Sichtweisen zur Bedeutung des Erzählens der Zielgruppe Heimbewohner werden in Form von graphischer Darstellung übersichtlich dargelegt.
Eine Möglichkeit der sozialen Arbeit, um der Relevanz des Erzählens im Altenheim entgegen zu kommen und den Bewohnern die Möglichkeit zum Erzählen einzuräumen, ist die Einrichtung eines Erzählcafés. Im Kapitel I werde ich im Internet und in der Literatur zu schon bestehenden Erzählcafés recherchieren und sie einzeln vorstellen. Das Kapitel endet mit den Vorüberlegungen zur Gründung eines Erzählcafés im vorgestellten Alten- und Pflegeheim und definiert die Zielsetzung.
Im Kapitel J werden detailliert die durchgeführten Erzählcafés von der Planung, über die Durchführung bis hin zur Reflexion und den daraus resultierenden Konsequenzen erläutert. Im Folgenden findet eine Reflexion der Erzählcafés statt, die sich kritisch mit der Erfüllung der Zielsetzung auseinandersetzt. Abgerundet wird das Kapitel durch eine Fotogalerie, die die entstandenen Fotos aus den verschiedenen Erzählcafés beinhaltet. Der Ausblick beschäftigt sich mit den Konsequenzen und der weiteren Zukunft des eingerichteten Erzählcafés.
Die Schlußbetrachtung resümiert die Fragestellung der Diplomarbeit: „Die Relevanz des Erzählens im Altenheim“ und stellt den gewählten Lösungsansatz dar: „Einrichtung eines Erzählcafés“.
Im Anhang befinden sich die Originalinterviews mit den Mitarbeitern, Ausführungen zu den gesetzlichen Grundlagen im Heimgesetz und der Pflegeversicherung sowie der Quellennachweis und das Abbildungsverzeichnis.
Ferner liegt dieser Diplomarbeit als Anlage eine Videokassette mit der Aufnahme eines Erzählnachmittags des eingerichteten Erzählcafés im Altenheim zum Thema „Gedichte“ bei.
Darüber hinaus befindet sich in der Anlage eine beigefügte CD, mit Ausschnitten aus den Interviews mit den Bewohnern zum Thema „Relevanz des Erzählens“.
Ist das Leben des Individuums
nicht vielleicht ebenso viel wert,
wie das des ganzen Geschlechtes?
Denn jeder einzelne Mensch
ist schon eine Welt,
die mit ihm geboren wird
und mit ihm stirbt.
Unter jedem Grabstein
liegt eine Weltgeschichte.
(Heinrich Heine)
Ich
habe während des Studiums der Sozialpädagogik in den unterschiedlichsten
sozialen Bereichen gearbeitet.
Vor Beginn meines Studiums arbeitete ich ein Jahr als Praktikantin in der Ergotherapie
einer psychiatrischen Einrichtung und kam in den verschiedenen Praktika der
Verhaltens-, Arbeits- und Beschäftigungstherapie mit allen Altersgruppen in
Berührung. Vor allem arbeitete ich auch mit Gruppen von alten Menschen und in
der Einzelbetreuung beschäftigte ich mich auch mit Akut- und Langzeitpatienten
der Gerontopsychiatrie.
Mein Blockpraktikum im Rahmen des Studiums führte ich im Sozialen Dienst eines
Altenheimes unter Anleitung eines Sozialpädagogen durch.
Darüber hinaus war ich während der Semesterferien auch in einem anderen
Altenheim im „Gruppenübergreifenden Dienst“ (GÜD) tätig.
Des weiteren arbeitete ich auch in der Gruppenarbeit der psychiatrischen Altentagesstätte
einer evangelischen Nerven- und Heilanstalt.
Zusätzlich war ich als Altenpflegehelferin jeweils auf zwei verschiedenen Bereichen
der Gerontopsychiatrie mit Langzeitpatienten tätig.
Darüber hinaus arbeitete ich in den Semesterferien in der Tagesgruppe der Gerontopsychiatrie.
Seit 1½ Jahren bin ich als festangestellte Teilzeitkraft im Altenpflegebereich
des evangelischen Alten- und Pflegeheims Haus X in Musterstadt beschäftigt.
Da ich in der Arbeit mit alten Menschen über viel praktische Erfahrung verfüge, lag es für mich nahe, mich auch im Rahmen der Diplomarbeit mit diesem Thema zu beschäftigen. Dazu kommt natürlich, dass mir die Arbeit mit alten Menschen viel Freude macht und ich sie für sehr sinnvoll erachte.
Auch
habe ich schon als Kind positive Erfahrungen mit der älteren Generation
gesammelt. Ich verdanke meinen Großeltern viele schöne Erlebnisse und
Kindheitserinnerungen. Wie oft saß ich auf dem Schoß meines Opas und hörte ihn
die Gedichte ab, die ich aus dem Kindergarten mitbrachte und die er dann
auswendig lernen musste! Wie viele Kleider schneiderte mir meine Oma und
bereitete für mich mein Lieblingsessen. Erinnerungen an die Großeltern prägen
das Leben eines Kindes.
Abgesehen von den persönlichen Bezügen möchte ich nun auf einige andere Aspekte
eingehen.
Wir haben das Jahr 1999. Es ist von den Vereinten Nationen (UNO) zum internationalen Jahr der Senioren ernannt worden. Dies ist auch ein Grund, sich gerade jetzt, in diesem Jahr, mit dem Thema auseinander zu setzen. Die Gemeinschaft der IJS (Internationales Jahr der Senioren) führt in diesem Jahr unzählige Veranstaltungen für alte Menschen durch und fordert auch die Bevölkerung auf, sich mit dem Thema auseinander zu setzen und mit Angeboten auf die Alten zuzugehen.
Vor allem wird das Thema zunehmend aktueller. Die Zahl der alten Menschen steigt, auf Grund der zunehmenden Lebenserwartung. Ich habe dies ausführlich in der Diplomarbeit dargestellt.
Darüber hinaus ist das Alter etwas, was alle Menschen betrifft, sofern sie nicht vorher sterben. Jeder Mensch wird einmal alt und eventuell hilfebedürftig und sollte dies in jungen Jahren nicht vergessen.
Da ich selbst auch einmal betroffen sein werde und vielleicht auf Hilfe angewiesen bin, möchte ich mich nun auch den Alten widmen und sie dort unterstützen, wo sie mich brauchen, auch wenn ich als einzelne Person nur einen geringen Teil der Menschen erreichen kann. Aus diesem Grund bin ich auch bemüht, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, um andere Menschen zu dieser Arbeit zu motivieren.
Dazu kommt, dass die Beschäftigung mit dem Thema auch eine Auseinandersetzung und eine Vorbereitung auf meinen eigenen Alterungsprozess darstellt. Ich kann mir somit mit dieser Auseinandersetzung mein „Altwerden“ bewusst machen, es annehmen und sinnvoll gestalten.
Der
weitere Schwerpunkt der Diplomarbeit liegt auf dem Thema Erzählen.
Da ich persönlich sehr gerne erzähle, entspricht das Thema meiner persönlichen
Begabung und Neigung.
Mir persönlich bedeutet das zwischenmenschliche Miteinander-Kommunizieren und
der soziale Erfahrungs- und Wissensaustausch sehr viel.
Ich habe mich auch während des Studiums im Rahmen von Medienpädagogik im Fach „Ästhetik und Kommunikation“ mit dem Erzählen beschäftigt und es für die mündliche Fachprüfung zum Thema gewählt.
Ich habe diese zwei Schwerpunkte im Rahmen dieser Diplomarbeit miteinander verknüpft, da ich glaube, dass das Erzählen für alte Menschen sehr relevant ist.
Ich habe mich beim Thema „Relevanz des Erzählens“ speziell auf die Situation im Altenheim konzentriert.
Ich
möchte kurz die Situation schildern, die für mich der Auslöser war, diese
Diplomarbeit „Alte Menschen und die Relevanz des Erzählens im Altenheim“ zu
schreiben.
Ich bin, wie bereits erwähnt, als Altenpflegehelferin im Pflegeheim tätig.
Bei der morgendlichen Pflegerunde war ich im Zimmer einer fast 100-jährigen Dame.
Sie begann mir, während ich ihr bei der Körperpflege half, aus ihrem Leben zu
erzählen: Sie besaß früher ein Haus am Mittelmeer in Italien und war dort als
Malerin tätig. Sie fuhr schon sehr früh, was damals für eine Frau noch sehr ungewöhnlich
war, auch gegen den Willen des Vaters, selbst mit dem eigenen Auto und bereiste
unzählige Länder.
Ich fand das Leben dieser Frau sehr interessant und erlebnisreich und hätte
mich gerne länger mit ihr darüber unterhalten. Leider musste ich sie zwangsläufig,
mitten in ihrer spannenden Erzählung unterbrechen, da ich während der
Pflegerunde nur eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung habe. Während der Arbeit
bleibt kaum Zeit übrig, um sich länger mit den Menschen zu unterhalten.
Nach dieser Situation wurde mir ganz deutlich bewusst, wie unhöflich und
verletzend mein Verhalten dieser alten Dame gegenüber erscheinen musste. Für
sie war es sehr wichtig gewesen, sich mir mitzuteilen, von mir Anerkennung zu
bekommen und ihr Leben vor ihrem Tod noch einmal zu resümieren.
Mir wurde deutlich, wie wichtig das Erzählen für Menschen ist, die in einem Altenheim leben und wie wenig andere Menschen sie haben, die sich für ihre interessanten Geschichten interessieren und sich die Zeit nehmen, ihnen zuzuhören.
So entstand meine Motivation zu der vorliegenden Arbeit.
Ich möchte mich im ersten Teil der Diplomarbeit mit der Zielgruppe „ältere Menschen“ näher beschäftigen, bevor ich mit ihnen die praktische Arbeit durchführe.
Auch möchte ich mich im zweiten Teil erst einmal theoretisch mit dem Erzählen beschäftigen, bevor ich zur praktischen Durchführung des Erzählcafés komme.
Wenn man sich mit der Zielgruppe „alte Menschen“ befasst, stellt man sich auch die Frage, wie viele alte Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und in der nahen Umgebung leben.
Hinzu kommt der Blick in die Zukunft. Da sich laut Prognosen die Zahl der älteren Menschen in der Zukunft stark ändern wird, möchte ich mich im ersten Kapitel zunächst mit der demographischen Entwicklung der Altersstruktur befassen. Daran wird man auch erkennen können, wie relevant das Thema „alte Menschen“ in der Zukunft sein wird.
Auch in der Sozialpädagogik wird es zunehmend aktueller, da ältere Menschen eine Zielgruppe der sozialpädagogischen Arbeit sind.
Ich habe im Internet zur demographischen Entwicklungsstruktur recherchiert und dazu Tabellen, Zahlen und Entwicklungsdiagramme gefunden.
Das Statistische Bundesamt Deutschland hat am 16.02.1999 die Zahlen der Einwohner in Deutschland veröffentlicht.
Die folgenden Tabellen zeigen, dass die Bevölkerung in Deutschland stetig zunimmt. Zur Bevölkerung Deutschlands zählen alle Einwohner, die mit ihrer Hauptwohnung in der Bundesrepublik gemeldet sind. Die Bundesrepublik ist ein dichtbesiedeltes Land. Es leben rund 82 Millionen Einwohner hier, das entspricht einer Bevölkerungsdichte von 230 Personen je Quadratkilometer. Die Vergleichszahl für die Europäische Union liegt bei 116 Personen je Quadratkilometer.
Bevölkerungsentwicklung und
Lebenserwartung |
||||
Gegenstand der Nachweisung |
Einheit |
1995 |
1996 |
1997 |
Früheres Bundesgebiet |
||||
Einwohner am 31.12. |
1 000 |
67 643,1 ¹
|
67 880,1 ¹
|
67 974,0 ¹
|
Eheschließungen,
Geborene, Gestorbene |
||||
Eheschließungen |
je 1 000 Einw. |
5,7 |
5,6 |
5,5 |
Lebendgeborene |
je 1 000 Einw. |
10,3 |
10,5 |
10,7 |
Nichtehelich Lebendgeborene |
je 1 000
Lebendgeb. |
128,9 |
136,8 |
142,7 |
Gestorbene |
je 1 000 Einw. |
10,7 |
10,6 |
10,4 |
Überschuß der Geborenen(+) |
je 1 000 Einw. |
– 0,4 |
– 0,1 |
+ 0,3 |
Bzw. der Gestorbenen(–) |
|
|
|
|
Ehescheidungen |
je 1 000 Einw. |
2,2 ¹ |
2,3 ¹ |
2,4 ¹ |
Lebenserwartung |
||||
Männer |
Jahre |
73,53 ² |
73,79 ³ |
74,07 4 |
Frauen |
Jahre |
79,81 ² |
80,00 ³ |
80,21 4 |
¹ Früheres Bundesgebiet
einschl.Berlin. |
Tabelle 1 Bevölkerungsentwicklung und Lebenserwartung West
Bevölkerungsentwicklung und
Lebenserwartung |
||||
Gegenstand der Nachweisung |
Einheit |
1995 |
1996 |
1997 |
Neue Länder und Berlin-Ost |
||||
Einwohner am 31.12. |
1 000 |
14 174,4 ¹ |
14 132,1 ¹ |
14 083,3 ¹ |
Eheschließungen,
Geborene, Gestorbene |
||||
Eheschließungen |
je 1 000 Einw. |
3,5 |
3,5 |
3,5 |
Lebendgeborene |
je 1 000 Einw, |
5,4 |
6 |
6,5 |
Nichtehelich Lebendgeborene |
je 1 000
Lebendgeb. |
417,7 |
423,9 |
441 |
Gestorbene |
je 1 000 Einw. |
11,5 |
11,3 |
10,9 |
Überschuß der Geborenen (+) bzw. |
je 1 000 Einw. |
– 6,1 |
– 5,2 |
– 4,4 |
Bevölkerungsentwicklung und
Lebenserwartung |
||||
Gegenstand der Nachweisung |
Einheit |
1995 |
1996 |
1997 |
Neue Länder und Berlin-Ost |
||||
Ehescheidungen |
je 1 000 Einw. |
1,5 ¹ |
1,6 ¹ |
1,9 ¹ |
Lebenserwartung |
||||
Männer |
Jahre |
70,72 ² |
71,20 ³ |
71,77 4 |
Frauen |
Jahre |
78,16 ² |
78,55 ³ |
79,02 4 |
¹ Neue Länder
ohne Berlin-Ost. |
Tabelle 2 Bevölkerungsentwicklung und Lebenserwartung Ost
Darüber hinaus zeigen die Tabellen, dass die Lebenserwartung der Männer und Frauen sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern gestiegen ist. Entsprach die Lebenserwartung im Zeitraum 1993-1995 der Männer noch 73,53 (70,72) Jahre, so ist sie bereits im Zeitraum 1995-1997 auf 74,07 (71,77) Jahre angestiegen. Im gleichen Zeitraum stieg die Lebenserwartung der Frauen von 79,81 (78,16) auf 80,21 (79,02) Jahre.
Am 31.12.1995 lebten insgesamt 81.817.500 Menschen in Deutschland. Die Zahl erhöhte sich 1996 um 194.700 Menschen. Bis zum 31.12.1997 erhöhte sich die Zahl wiederum um 45.200 Personen auf insgesamt 82.057.400. Davon sind 39.992.300 männlichen und 42.065.100 weiblichen Geschlechts. Die genauen Zahlen des Bevölkerungswachstums, sind der folgenden Tabelle, die vom Statistischen Bundesamt im Internet veröffentlicht wurde, zu entnehmen.
Bevölkerung nach Geschlecht |
||||
Gegenstand der Nachweisung |
Einheit |
1995 |
1996 |
1997 |
Deutschland |
||||
Einwohner am 31.12. |
1 000 |
81 817,5 |
82 012,2 |
82 057,4 |
männlich |
1 000 |
39 824,8 |
39 954,8 |
39 992,3 |
weiblich |
1 000 |
41 992,7 |
42 057,3 |
42
065,1 |
Tabelle 3 Bevölkerung nach Geschlecht
Niedrige Geburtenzahlen und die Abnahme der Heiratsbereitschaft spiegeln die Einstellung der Gesellschaft zu Familie und Kindern wieder und sie nehmen Einfluss auf die Größe der Haushalte, die tendenziell seit Jahren abnimmt. Besonders in Großstädten sind 1-Personen-Haushalte überdurchschnittlich anzutreffen. Die Tabelle Haushalte und Bevölkerungsbewegung zeigt, dass 1- und 2-Personenhaushalte von 1995 bis 1997 zunahmen. Haushalte mit mehr als 3 Personen nahmen kontinuierlich ab. Besonders die alten Menschen werden in der Zukunft zunehmend in 1-Personenhaushalten leben, da sie oftmals ihren Lebenspartner verloren haben und in der heutigen Gesellschaft die Mehrgenerationenhaushalte immer seltener werden[1].
Haushalte und Bevölkerungsbewegung |
||||
Gegenstand der Nachweisung |
Einheit |
1995 |
1996 |
1997 |
Deutschland |
||||
Haushalte (im
April) |
1 000 |
36 938 |
37 281 |
37 457 |
Einpersonenhaushalte |
1 000 |
12 891 |
13 191 |
13 259 |
2-Personenhaushalte |
1 000 |
11 858 |
12 039 |
12 221 |
3-Personenhaushalte |
1 000 |
5 847 |
5 770 |
5 725 |
4-Personenhaushalte |
1 000 |
4 596 |
4 556 |
4 537 |
Haushalte mit 5 und mehr Personen |
1 000 |
1 746 |
1 725 |
1 715 |
Eheschließungen,
Geborene, Gestorbene |
||||
Eheschließungen |
Anzahl |
430 534 |
427 297 |
422 776 |
Lebendgeborene |
Anzahl |
765 221 |
796 013 |
812 173 |
und zwar: nichteheliche |
Anzahl |
122 876 |
135 700 |
145 833 |
Ausländer/-innen |
Anzahl |
99 714 |
106 229 |
107 182 |
Totgeborene |
Anzahl |
3 405 |
3 573 |
3 510 |
Gestorbene |
Anzahl |
884 588 |
882 843 |
860 389 |
Überschuß der Geborenen (+) bzw. |
Anzahl |
– 119 367 |
– 86 830 |
– 48 216 |
Ehescheidungen |
Anzahl |
169 425 |
175 550 |
187
802 |
Tabelle 4 Haushalte und Bevölkerungsbewegung
Die Bundesrepublik ist bereits heute, wie die meisten Industrieländer, durch eine schwach vertretene junge Generation gekennzeichnet. Die Lebenserwartung der Bevölkerung steigt im gesamten Bundesgebiet, einschließlich der neuen Bundesländer. Dadurch verschiebt sich die Altersstruktur ständig zugunsten der Alten. Die Tabelle 5 zur „Bevölkerung nach Altersgruppen, Familienstand und Religionszugehörigkeit“ des Statistischen Bundesamtes zeigt die Entwicklung nach Altersgruppen von 1995 bis 1997.
Bevölkerung
nach Altersgruppen, Familienstand und |
||||
Gegenstand der Nachweisung |
Einheit |
1995 |
1996 |
1997 |
Deutschland |
||||
nach Altersgruppen
von ... bis unter ... Jahren |
||||
unter 6 |
1 000 |
4 985,2 |
4 854,8 |
4 807,0 |
6 – 15 |
1 000 |
8 253,3 |
8 332,5 |
8 291,4 |
15 – 25 |
1 000 |
9 156,8 |
9 047,9 |
9 025,5 |
25 – 45 |
1 000 |
26 138,0 |
26 191,7 |
26 031,7 |
45 – 65 |
1 000 |
20 551,8 |
20 728,5 |
20 935,4 |
65 und mehr |
1 000 |
12 732,5 |
12 856,8 |
12 966,4 |
Insgesamt |
1 000 |
81 817,5 |
82 012,2 |
82 057,4 |
nach Familienstand |
||||
- ledig |
1 000 |
32 086,6 |
33 428,5 |
33 686,6 |
- verheiratet |
1 000 |
39 173,1 |
38 103,3 |
37 813,4 |
- verwitwet/geschieden |
1 000 |
10 557,8 |
10 480,5 |
10 557,3 |
nach
Religionszugehörigkeit |
||||
darunter: |
||||
- evangelisch |
1 000 |
27 922 |
27 659 |
... |
- katholisch |
1 000 |
27 347 |
27 229 |
... |
- jüdisch |
1 000 |
54 |
61 |
... |
Tabelle 5 Bevölkerung nach Altersgruppen, Familienstand und Religionszugehörigkeit
Man kann
deutlich erkennen, dass die Zahl der Kinder unter sechs Jahren stetig abnimmt.
Hingegen nahm die Zahl der 45 bis 60 jährigen zu. Die Zahl der Menschen, die
über 65 Jahre alt sind, ist von 12.732.500 im Jahre 1995 auf 12.966.400 in 1997
angestiegen. Dies entspricht einem Zuwachs von 233.900 Personen (+1,8%).
Die
Bevölkerungspyramide
Die nachfolgend dargestellte Bevölkerungspyramide des Statistischen Bundesamtes zeigt den Altersaufbau der Bevölkerung am 31.12.1997.
Abbildung 1 Bevölkerungspyramide – Altersaufbau der Bevölkerung
Es ist zu erkennen, dass die Zahl der 30-40jährigen Menschen am höchsten ist, da bei diesen Altersjahrgängen die Pyramide besonders breit verläuft. Je breiter die Pyramide, um so mehr Menschen der jeweiligen Altersjahre gibt es. Die Pyramide zeigt auch, dass der Anteil der Kinder und jungen Erwachsenen von 0 bis ca. 25 Jahren jeweils wesentlich weniger an der Gesamtbevölkerung ausmacht, als der Anteil der ca. 60jährigen. Da Modellrechnungen davon ausgehen, dass die Bevölkerung, wegen des geringeren Wunsches nach Kindern, abnehmen wird, wird der Anteil der jungen Menschen gegenüber den Alten auch in Zukunft niedriger sein. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung. Die nun 30-40-jährigen werden älter als die heutigen Alten. Dadurch ist abzusehen, dass die Zahl der älteren Menschen in der Zukunft zunehmen wird und einen wesentlich höheren Anteil an der Gesamtbevölkerungen einnehmen wird.
Das nächste Schaubild zeigt die jährliche Bevölkerungszunahme bzw. –abnahme, in Deutschland von 1960 bis ca. 1997.
Abbildung 2 Jährliche Bevölkerungszunahme / -abnahme in Deutschland
In den Jahren 1960 bis ca. 1974 nahm die Bevölkerung zu, zum Teil bis zu 700.000 Menschen pro Jahr. Sie erlebte einen starken Einbruch ca. 1967, konnte kurz danach jedoch ihren alten Wert erneut erreichen. Seit Anfang der 70er Jahre jedoch sank die Bevölkerungszunahme stetig, bis sie schließlich im Jahre 1974 die Grenze zur Bevölkerungsabnahme erreichte. In den Jahren 1974-1978 und 1981-1985 nahm die Bevölkerung jährlich ab. Seitdem nimmt die Zahl der Bevölkerung wieder zu. Die Bevölkerungszunahme sinkt tendenziell seit Ende der 80er Jahre und hat Ende 1997 den Nullpunkt erreicht. [72]
Weiterhin fand ich im Internet einen Bericht des AWO – Bundesverbandes e.V. vom 18.05.1998 mit dem Titel „Bald jeder dritte über 60“. Er beruft sich auf den jüngsten Altenbericht der Bundesregierung.
Im Jahr 2030 wird jeder dritte Bürger älter als 60 Jahre sein, das wären 26,4 Millionen Menschen. Zur Zeit liegt der Bevölkerungsanteil der über 60-jährigen bei 20%. Die Zahl der alleinstehenden Senioren wird sich in diesem Zeitraum von 7,8 Millionen auf voraussichtlich 13,2 Millionen erhöhen.
Wir müssen uns auf diese Entwicklung einstellen und anpassen. Absehbar ist, dass das Hilfepotential innerhalb der Familie abnimmt, so dass die Entwicklung immer mehr erweiterte soziale Netzwerke wichtig werden lässt. Die Entwicklung zu immer mehr alten Menschen, die zunehmend alleine leben werden, hat einen Einfluss auf Wohn- und Siedlungsstrukturen sowie auf die Familie und die gesamte Gesellschaft. [68]
Auch das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) veröffentlichte im Internet einen Bericht zur demographischen Lage 1997 in Deutschland. Demnach leben von 82 Millionen Menschen in Deutschland 66,6 Millionen im früheren Bundesgebiet und 15,4 Millionen in den neuen Bundesländern, einschließlich Ost-Berlin. Des weiteren heißt es, dass sich in den letzten Jahren die Sterbehäufigkeit verringert hat. Die Zahl der Sterbeziffer wird auch stark von der weiterhin immer mehr sinkenden Säuglingssterblichkeit beeinflusst. Die Lebenserwartung liegt im Westen immer noch deutlich höher als im Osten und die der Mädchen liegt weiterhin deutlich über der der Jungen. [69]
Darüber hinaus habe ich zur demographischen Lage in der Literatur folgende Anhaltspunkte zusammengetragen:
Ich möchte kurz den Unterschied des heutigen Altenanteils an der Bevölkerung, gegenüber früheren Zeiten, darlegen. Zur Zeit Bismarcks[2] zählten zu den Alten, der sogenannten Gruppe der Ruheständler, nur 2 % der gesamten Bevölkerung. Ende der 80er Jahre in diesem Jahrhundert waren es 22%. Um die Jahrtausendwende werden mehr als 27% und im Jahre 2030 fast 40% der Bevölkerung zu den Alten gehören. [36]
Ich habe das Bundesministerium angeschrieben und mir reichlich Literatur zuschicken lassen. Im zweiten Altenbericht äußert sich die Bundesregierung zur durchschnittlichen Lebenserwartung wie folgt:
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden die Menschen durchschnittlich 37 Jahre alt. 1950 lag die Lebenserwartung für Männer im Durchschnitt bei 64,6 Jahren und für Frauen bei 68,5 Jahren. Heute liegt die Lebenserwartung etwa doppelt so hoch, wie Ende des 19. Jahrhunderts. Männer werden in den alten Bundesländern ca. 73,5, Frauen ca. 79,8 Jahre alt. In den neuen Bundesländern haben Männer eine durchschnittliche Lebenserwartung von 70,7 und Frauen von 78,2 Jahren. [13]
Die steigende Lebenserwartung lässt sich vor allem auf die verbesserten Lebensbedingungen zurückführen, sowie auf den medizinisch-technischen Fortschritt. Beeinflusst wird die Lebenserwartung durch 3 Faktoren: Die verminderte Säuglingssterblichkeit, eine geringe Sterblichkeit im Kindesalter sowie ein durchschnittlich höheres Sterbealter. [13]
Modellrechnungen gehen davon aus, dass die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland von 1995 bis 2040 von 81,8 Millionen auf 68,8 Millionen sinken wird. Gleichzeitig verändert sich der prozentuale Anteil zwischen Jungen und Alten. Laut Aussage des Bundesministeriums wird der Anteil der älteren Menschen (60 Jahre und älter) im Zeitraum von 1995 bis 2040 von 17,2 Millionen (21%) auf 25,3 Millionen (36,8%) steigen. In 40 Jahren wird mehr als jeder 3. Mensch älter als 60 Jahre sein. [8]
Ein weiteres Schaubild soll den Anteil der Hochbetagten an der Bevölkerung 1993 in den verschiedenen Regionen von Deutschland zeigen.
Abbildung 3 Anteil der Hochbetagten an der Bevölkerung 1993
Man erkennt, dass noch ein großer Teil der Regionen dunkelblau bzw. hellblau gefärbt ist, diese Regionen stehen für eine stark bzw. unterdurchschnittliche Zahl der 80jährigen an der Bevölkerung. Es gibt nur wenige Flächen, die rot gefärbt sind und einen stark überdurchschnittlichen Anteil der Alten repräsentieren. Auch die Regionen mit überdurchschnittlicher Anzahl Hochbetagter sind noch relativ gering.
Das folgende Schaubild zeigt die Prognose der Zunahme der Hochbetagten bis zum Jahre 2010 in den verschiedenen Regionen Deutschlands.
Abbildung 4 Veränderung der Zahl der Hochbetagten bis 2010
Hier gibt es nur noch wenige Gebiete, die einen stark unterdurchschnittlichen Anteil an Hochbetagten aufweisen und auch die hellblauen Gebiete haben stark abgenommen.
Daran kann man ungefähr absehen, wie stark die Zahl der alten Menschen zunehmen wird und welche Regionen besonders betroffen sind. [13]
Um zu erfahren, wie groß der Anteil der alten Menschen in der Region ist, in der ich lebe und in der sich auch das Altenheim befindet, in dem ich die praktische Durchführung meiner Diplomarbeit angeboten habe, informierte ich mich im Seniorenführer Bergisch Land 1997/1998. Das Altenheim befindet sich in Musterstadt. Im Seniorenführer Bergisch Land fand ich die Zahlen zur Anzahl der männlichen und weiblichen Alten in Musterstadt und in den Nachbarstädten. [78]
Ich möchte die Zahlen in Form der folgenden Tabelle vorstellen.
Anteil der Senioren an der Bevölkerung Bergisch Land in % |
||||||
Gebiet |
BRD |
Musterstadt |
Hückes-wagen |
Rade-vormwald |
Wermels-kirchen |
BRD |
Männlich über 60 Jahre |
8,3 |
8,3 |
9,1 |
8,9 |
9,2 |
10,9 |
Weiblich über 60 Jahre |
11,8 |
13,1 |
13,7 |
12,9 |
13,2 |
14,3 |
Gesamt |
20,1 |
21,4 |
22,8 |
21,8 |
22,4 |
25,2 |
Tabelle 6 Anteil der Senioren an der Bevölkerung Bergisch Land
Das Altern der Gesellschaft vollzieht sich nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Nach Prognose der Weltbank steigt der Anteil der Älteren an der Gesamtbevölkerung von 1990 bis 2075, zwar regional unterschiedlich, aber überall an: In Lateinamerika von 6,9% auf 27,9% und im mittleren Osten und Nordafrika von 5,7% auf 25%. In Zentral- und Südafrika von 5,2% auf 18,8% und in Asien von 6,3% auf 26,2%. In den OECD-Staaten steigt der Anteil der Älteren von 18,6% auf 30,2% und in Osteuropa und der früheren Sowjetunion von 15,3% auf 28,7%. An der folgenden Tabelle kann man sehen, wie die Zahl der alten Menschen zwischen 1990 und 2025 in ausgewählten Beispielländern zunimmt. [8]
Abbildung 5 Prognosen für einzelne Länder für das Jahr 2025
Begründet ist die demographische Alterung nach Meinung des Bundesministeriums vor allem durch die Zunahme der Lebenserwartung. Doch nicht die Steigerung der Lebenserwartung bei der Geburt an sich, sondern insbesondere die damit in typischer Weise verbundene Reduzierung der Alterssterblichkeit verstärkt die Alterung. Natürlich trägt auch der jüngste Geburtenrückgang, der die durchschnittliche Geburtenzahl je Frau von 1,5 bis 1,4 Kinder seit Mitte der 70er Jahre gebracht hat, zur demographischen Alterung bei. Aber es ist nicht der ausschließliche Grund [9]
Anhand von Modellrechnungen von Meyers (1984) kann gezeigt werden, dass der Effekt der demographischen Alterung „von der Spitze“ der Bevölkerungspyramide dann auftritt, wenn die Lebenserwartung auf mehr als 70 Jahre steigt. Dieses Niveau wurde in Deutschland Anfang der 70er Jahre erreicht. [49]
Der dritte Grund eines langfristigen Alterungsprozesses einer Bevölkerung ist die Zuwanderung. Inwieweit sie die demographische Alterung beeinflusst, hängt einerseits von der Höhe der Zuwanderung, im besonderen Maße aber, wie es Dinkel und Lebok (1993) an Hand von Modellrechnungen zeigen, von der Alters- und Geschlechtsstruktur der zuwandernden Bevölkerung ab. Die allgemein gehegte Hoffnung, dass Zuwanderungen die Altersprobleme mindern können, ist so allgemein gesehen nicht ganz richtig. Zuwanderungen können die demographische Alterung sogar noch verschärfen. [16]
Meist sind die Migranten im erwerbsfähigen Alter. Hierdurch verstärken sie in Deutschland in den 90er Jahren die ohnehin schon stark besetzten Geburtenjahrgänge zwischen 20 und 35 Jahren und in Zukunft damit die Alterung. Gestoppt werden kann nach Modellrechnungen von Steinmann (1991) der Alterungsprozess nur bei massiver, ständiger Zuwanderung. Damit ginge ein stark erhöhtes Bevölkerungswachstum und ein stark erhöhter Ausländeranteil einher. Zuwanderungen führen nur zu einer vorübergehenden, mittelfristigen Verjüngung. Der Einfluss der Migration auf die Alterung ist aber eher geringer, als die vor allem sinkende Alterssterblichkeit und die niedrigen Geburtenniveaus. [9]
Nach der aktuellen amtlichen Modellrechnung der statistischen Ämter des Bundes und der Länder (8. koordinierte Bevölkerungsberechnung, 1994) wird der Anteil der 60jährigen und älteren Menschen im vereinten Deutschland von 20,4% im Jahr 1990 auf 33,6% im Jahr 2030 ansteigen. Im gleichen Zeitraum sinken die prozentualen Anteile an der Gesamtbevölkerung. Bei den unter 20jährigen von 21,5% auf 16,8% (-4,7%) und besonders deutlich bei der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 58,1% auf 49,6% (-8,5%). Damit verbunden ist auch eine Verdopplung des Altenquotienten, also der Relation zwischen Senioren und der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Kamen 1993 noch 35 über 65jährige auf 100 Personen im Alter von 20 bis 59 Jahren, so werden es im Jahr 2030 etwa 68 auf 100 sein.
Im Jahre 2020 könnte der Anteil der über 60jährigen fast 27%, also mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Demographische Wandlungsprozesse konfrontieren die Gesellschaft mit problematischen Veränderungen. Es wird in Zukunft weniger Erwerbstätige geben, die für die Absicherung von immer mehr älteren Menschen aufkommen müssen. Geht man von einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren aus, dann gibt es im Jahr 2030 rund 100 Erbwerbstätige zu 61 Senioren. Bei einem Renteneintrittsalter von 60 Jahren wären es 80 Senioren bei 100 Erwerbstätigen. [9]
Vielleicht ist dies auch ein Anstoß zur Umgestaltung des Renteneintrittsalters und zur flexibleren Gestaltung der Arbeit. Alterssicherung, Krankheitssicherung im Alter und Pflegebedürftigkeit sind Themen, die in Zukunft immer bedeutender werden.
Das Ziel der Gesellschaft sollte es sein, Solidarität und Gemeinsinn zu stärken. Die Rolle des alten Menschen in der Gesellschaft sollte gestärkt werden und seine Kreativität und Ressourcen sollten länger und besser genutzt werden.
Hier ist nicht zuletzt die Öffentlichkeitsarbeit der Sozialpädagogen gefragt, die spezifische Probleme, Bedürfnisse, Umweltgegebenheiten und die Wichtigkeit sozialer Arbeit für alte Menschen publik machen sollten. Auf Grund der demographischen Entwicklung wird sich auch die Sozialpädagogik unter anderem im Schwerpunkt auf Angebote für alte Menschen verlagern und anpassen müssen. Es sollte auch im Studium stärker Berücksichtigung finden und die Vielfalt an kreativen Möglichkeiten im Umgang mit Alten sollte noch mehr hervorgehoben werden. Das Image der Arbeit mit Alten ist eher negativ belastet und sollte attraktiver besetzt werden.
Denn nicht nur Kinder und Jugendliche bedeuten unsere Zukunft, denn es sind auch vor allem die Alten, die in unserer Zukunft eine große Rolle spielen.
Auch sie haben noch Bedürfnisse und Wünsche und ein Recht auf Hilfe in unserer Gesellschaft. Alte Menschen verfügen über Ressourcen, die gefördert werden können und sie verfügen über Lebenserfahrung und Lebenserinnerungen, die auch die junge Generation bereichern können.
Ich möchte hier einen Überblick über Wohnformen im Alter geben.
Etwa 93% der Menschen im Alter von 65 und mehr Jahren leben in normalen Wohnungen.
Die zahlenmäßig bedeutsamste Sonderwohnform ist das Pflegeheim, danach kommen die Altenheime und danach die Wohnheime.
Die folgende Tabelle soll veranschaulichen, wo ältere Menschen wohnen:
Abbildung 6 Wohnformen im Alter
Die Tabelle zeigt, dass ein eher geringer Anteil der alten
Menschen, nämlich 661.000 Menschen, in einem Heim leben. Dem gegenüber steht
die Zahl der alten Menschen, die in normalen Wohnungen leben, mit 11,6
Millionen.
Von den 661.000 Menschen leben nur 56,7 % in einem Pflegeheim, 30,8% in einem
Altenheim und 4,5% im „Betreuten Wohnen“.
Man kann feststellen, dass Altsein nicht zwangsläufig Hilfebedürftigkeit und Gebrechlichkeit bedeutet, bzw. das man nicht zwangsläufig im Alter in einem Heim leben muss. Gerade wenn man im Altenheim arbeitet, bekommt man ein falsches Bild vom Alter. Man sieht tagtäglich schwerstpflegebedürftige Menschen und verallgemeinert schnell die ältere Generation, da man mit den Alten im Heim überwiegend konfrontiert wird. Aber nur ein geringer Teil der Alten lebt tatsächlich im Heim.
Die folgende Tabelle zeigt die Schätzung des Bedarfs an Heim- und Wohnplätzen im Jahr 2040:
Abbildung 7 Schätzung Versorgungsbedarfs
Es besteht ein zusätzlicher Bedarf von voraussichtlich +64% an Heim- und Wohnplätzen für Hochaltrige. Der zusätzliche Bedarf für jüngere Alte liegt bei +53%. Die Hochaltrigen haben eine hohe Wachstumsrate, insgesamt handelt es sich um einen Mehrzuwachs an 2 Millionen Menschen. Gravierender ist die Zahl der jungen Alten (65 – 79 jährige): ca. 5 Millionen Menschen Zuwachs. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wird bei 20% liegen. [13]
Institutionalisierte Wohnformen sind Heime und sonstige heimähnliche Wohnformen. Die Unterscheidung der einzelnen Wohnformen ist problematisch, weil sie in einer Einrichtung häufig kombiniert werden und sich nicht immer klar unterscheiden.
Viel selbständiges Wohnen ist im Wohnheim gekoppelt mit einem
geringen Betreuungsangebot.
Viel Betreuung ist dagegen im Pflegeheim gekoppelt mit wenig Wohnen, also der
individuelle Wohnbereich ist erheblich kleiner oder gar nicht vorhanden
(Mehrbettzimmer). Dafür werden im Pflegeheim mehr Gemeinschaftsräume angeboten.
Das Altenheim nimmt eine Zwischenstellung ein. Es werden keine selbständigen
Wohnungen, aber fast ausschließlich individuelle Räume zur Verfügung gestellt.
[13]
Abbildung 8 Merkmale institutionalisierter Wohnformen
Dem Altenheim ist es wesenseigen, dass die Bewohner in der
Regel zur eigenen Haushaltsführung nicht mehr im Stande und damit
versorgungsbedürftig, nicht aber pflege- und behandlungsbedürftig sind.
Bis auf die Teilnahme an der Gemeinschaftsverpflegung können sie weitgehend
selbstbestimmt und autonom leben.
Die charakteristische Wohnform des Altenheims ist das Einzelzimmer und hat eine
Mindestfläche von 12m² aufzuweisen (bei zwei Personen mindestens 18m²). Mehr
als zwei Personen dürfen nur mit behördlicher Genehmigung in einem Zimmer
untergebracht sein (vgl. §§14-18 HeimMindestBauVo).
Die Appartements sind in der Regel mit Dusche, Bad und WC ausgestattet. In
einigen Heimen stehen sogar Kochgelegenheiten zur Verfügung und Gemeinschaftsräume
sind vorhanden.
Die meisten Einrichtungen erbringen folgende Leistungen: Unterkunft, Vollverpflegung,
Reinigung, Wäscheversorgung, Fahrdienste, gelegentliche Veranstaltungen,
Vermittlung ärztlicher Hilfe und vorübergehende Pflegeleistungen im
Krankheitsfall. [17], [12]
Die Bewohner sind in der Regel langfristig bzw. dauerhaft pflege-, hilfs- und behandlungsbedürftig. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen reichen von körperlichen Gebrechen und Krankheiten bis zu senilen Demenzen, hin zu Schwerstpflegefällen. Die Bewohner sind nicht mehr zur eigenen Haushaltsführung im Stande. Ihre Fähigkeit zur autonomen Lebensgestaltung und Tagesplanung ist oftmals erheblich eingeschränkt. Die Bewohner sind zum überwiegenden Teil in 2-Bettzimmern untergebracht. Möbel können nur, sofern Platz dafür bereit gestellt werden kann, in sehr begrenztem Umfang mitgebracht werden. Die Zimmer des Pflegeheims sind, bis auf wenige Ausnahmen, mit eigenen Sanitäreinrichtungen ausgestattet. Hinsichtlich ihrer Größe gilt die gleiche Bestimmung, wie für das Altenheim (vgl. §§23-27 HeimMindestBauVo). Das Pflegeheim gewährt folgende Leistungen: Unterkunft, Vollverpflegung, Grund- und Behandlungspflege, soziale Betreuung, ärztliche Versorgung und Notrufbereitschaft.
Allerdings werden in den meisten Einrichtungen die Alten- und Pflegeheime kombiniert. Hierbei ist zu beobachten, dass sich das Altenheim, im Hinblick auf die Bewohnerstruktur, immer mehr an das Pflegeheim angleicht. Alte Menschen gehen immer später in ein Heim, da sie entweder von den Familienangehörigen und/oder von häuslichen Pflegediensten versorgt werden. Erst wenn das Wohnen zu Hause nicht mehr möglich ist, suchen sie einen Heimplatz auf. Daher sind die Bewohner eines Altenheimes zunehmend pflegebedürftig. [17], [12]
Seit 1975 sind Heimbewohner durch das Heimgesetz wirksam geschützt. 1990 brachte eine Neuverfassung des Gesetztes weitere Verbesserungen. Heimbewohner haben natürlich die gleichen Rechte, wie normale Staatsbürger auch. Das Heimgesetz schafft ihnen noch einen zusätzlichen Schutz, damit ihre Interessen gewahrt werden. Zweck der Gesetze ist es auch, die Selbständigkeit und Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren, denn die Entfaltung der Persönlichkeit und die Aktivität der noch vorhandenen Kräfte tragen wesentlich zum Wohl und zur Zufriedenheit der Heimbewohner bei. Ein kurzer Überblick über das Heimgesetz (HeimG) ist im Anhang B (Seite 265 ff) beigefügt.[12]
Ich möchte nun das Alten- und Pflegeheim kurz vorstellen, in dem ich als Pflegekraft angestellt bin und die praktische Arbeit der Diplomarbeit durchführe.
Haus X ist ein evangelisches Alten- und Pflegeheim in Musterstadt-Musterhausen. Es ist eine Einrichtung der Diakonie für alte und pflegebedürftige Menschen. Das Haus wurde 1847 als Musterhauser Waisenverein gegründet und feierte im Jahre 1997 sein 150-jähriges Bestehen. Das Altenheim ist in der Trägerschaft der evangelischen Kirchengemeinde Musterhausen und des Vereins Haus X e.V..
Die Wurzeln sind die des diakonischen Handelns in der evangelischen Kirche. Die Haus X gGmbH ist eine stationäre Altenhilfeeinrichtung mit fast 120 Heimplätzen, davon 106 im Alten- und Pflegeheim und die restlichen im „Betreuten Wohnen“.
Die Namensgebung „X“ ist auf den Reformator und Märtyrer Adolf X vom Buscherhof zurückzuführen. Sein unerschrockenes Eintreten für die Wahrheit und Gerechtigkeit Gottes und seine Beharrlichkeit in der Verfolgung dieses Zieles sind Vorbild des Hauses. Die Dienstleistung richtet sich an der Bibel aus.
Haus X besteht aus einem Alten- und einem Pflegeheim, welche, was den Grad der Pflegebedürftigkeit anbetrifft, mittlerweile angeglichen sind. Zusätzlich ist auch das „Betreute Wohnen“ angeschlossen. Im Pflegeheim befinden sich drei Wohnbereiche (Bezeichnung für den damals und leider auch heute noch verwendeten Begriff der Station). Das Altenheim besteht aus zwei Wohnbereichen. Auf jedem Wohnbereich leben ca. 20 Bewohner.
Ca. 80% der Bewohnerschaft sind Frauen. Wiederum ca. 80% der Bewohner sind älter als 80 Jahre.
Der größte Teil der Bewohner wohnt in Zweibettzimmern. Der andere Teil lebt in Einbettzimmern. Leider gibt es aus wirtschaftlichen Gründen noch zwei Vierbettzimmer und ein Dreibettzimmer im Haus. [75]
Bevor ich mich mit der Zielgruppe „Der ältere Mensch“ praktisch beschäftigen werde, möchte ich erst einmal danach fragen, wer ältere Menschen überhaupt sind. Was bedeutet das Wort „Alt“ oder welche Bedeutung hat der Begriff „Alte Menschen“ in unserer Gesellschaft?
„Alter, die Zeit des Bestehens, ausgedrückt in Zeiteinheiten, z. B. das Alter eines Menschen (Lebensdauer). Im biologischen Sinne ist Altern ein über das ganze Leben sich erstreckender Wandlungsprozess, der sich aus dem Wachstumszustand des Organismus sowie aus Veränderungen der Gewebe und Organe erkennen und bestimmen lässt.“ [74,77]
„Umgangssprachlich versteht man die Begriffe „Alter“ und „Altern“ im Sinne des kalendarischen Alterns, jemand ist zum Beispiel 75 Jahre alt oder 10 Jahre (=10 Kalenderjahre) älter geworden. Zweifellos stellt dieses kalendarische Altern eine von vielen Bedingungen für „Alter“ und „Altern“ dar.“ [35]
„„Alter“ kennzeichnet eine Spanne im individuellen Lebenslauf.
„Altern“ einen Prozess der Veränderung.“ [39]
Oder der Begriff des Alterns wird da angesetzt:
„wo die Wachstumskräfte den Organismus zu einem relativen Gleichgewicht führen“ [5]
Der Begriff „Alter“ wird in der Literatur zum Beispiel bei Reimann und Reimann (1983) unter folgenden Gesichtspunkten beschrieben:
1. Das kalendarische oder chronologische Altern ist die seit der Geburt verstrichene Lebenszeit.
2. Das rechtliche Altern betrifft Veränderungen, die eintreten, wenn man ein bestimmtes kalendarisches Alter erreicht hat (zum Beispiel Volljährlichkeit, Rentenalter, usw.).
3. Das biologische Altern meint die Lebensspanne, die seit Entstehung des Organismus verstrichen ist. Es beschreibt den Entwicklungs- oder Erhaltungszustand.
4. Das soziale Alter bezeichnet die Übernahme von Positionen und Rollen, die das Individuum in einer bestimmten Phase auf Grund gesellschaftlicher Erwartungen vorfindet (zum Beispiel Schulkind, Berufstätiger, Rentner). Die Zuordnung „Alt“ kann in den verschiedenen Kategorien beträchtlich variieren. Ein Fußballspieler gehört mit 40 zu den Alten, während ein Politiker mit 50 zu den Jungen gehört. Eine Person kann durch eine frühe Elternschaft schon zur Kategorie Großeltern gehören, obwohl sie im beruflichen Bereich noch weit von der Kategorie Rentenalter entfernt ist.
5. Das subjektive Alter oder psychologische Alter meint die Art und Weise, wie ein Mensch seinen Zustand deutet. Dies drückt sich in dem bekannten Spruch aus: „Man ist so alt, wie man sich fühlt“. [32]
Nach Rosenmayr (1990) ist Altern durch einen biologischen Prozess der Rückbildung aller Organe und ihrer Leistungen (Involutionsprozess) bestimmt, der aber psychisch, sozial und kulturell beeinflussbar und zum Teil steuerbar ist. [33]
Wenn ich überlege, was mir zu dem Begriff „Alt“ einfällt, dann gehen meine Gedanken in zwei verschiedene Richtungen.
Wird ein Gegenstand als „alt“ bezeichnet, dann ist er meist verbraucht, überholt, unmodern und oftmals nicht mehr so funktionsfähig, wie ein neuer.
Andererseits assoziiere ich mit einem alten Gegenstand auch einen gewissen Wert. Ein alter Gegenstand, wie zum Beispiel ein antikes Möbelstück, besitzt einen hohen Wert durch sein Alter. Es vermittelt eine Atmosphäre aus früheren Zeiten und hat Seltenheitswert. Eventuelle Spuren vom langen Gebrauch geben dem Stück eine gewisse Authentizität und Einzigartigkeit. Man sieht dem Stück an, dass es schon in vielen Stuben gestanden hat und von vielen Menschen benutzt wurde. Es hat in den unterschiedlichsten historischen Zeiten und an den unterschiedlichsten Orten gestanden. Es verbirgt Geschichten und Erinnerungen.
Ich möchte nun versuchen, dieses Bild auf einen alten Menschen zu übertragen:
Auch ein alter Mensch mag in vieler Hinsicht unmodern sein. Seine Einstellungen sind oft überholt, denn die Zeiten haben sich geändert. Auch mag der alte Mensch nicht mehr in allen Bereichen so „funktionsfähig“ sein, wie ein jüngerer. Er ist auf manchen Gebieten nicht mehr so leistungsfähig, langsamer und vielleicht auch schon gebrechlich.
Andererseits glaube ich, dass der alte Mensch gerade durch sein Alter wertvoll ist. Er hat lange gelebt und kann stolz darauf sein, dieses Alter erreicht zu haben. Auch der alte Mensch hat Seltenheitswert, er ist einzigartig, gerade durch seine lange, individuelle Geschichte. Je älter ein Mensch wird, um so mehr bildet sich seine ganz eigene Persönlichkeit heraus. Auch dem alten Menschen sieht man die Spuren der Vergangenheit an. Man hört oft den Satz: „Ihr steht das Leben ins Gesicht geschrieben“. Die Haltung, die Gesichtszüge und vor allem die Falten im Gesicht, erzählen von vergangenen Tagen und Erlebnissen. Man sieht alten Menschen, viel mehr als den jüngeren, ihre Erlebnisse an. Lachfalten, Sorgenfalten, eine Denkerstirn und Zornesfalten, das alles sind Begriffe, die man mit dem Gesicht eines alten Menschen assoziiert. Gesichter alter Menschen sind vom Leben geprägt und daher viel ausdrucksstarker als junge Gesichter. Genau wie dem Möbelstück sieht man dem Menschen an, dass er so einiges miterlebt hat.
Gerade das macht seinen einzigartigen Charakter aus: Seine Erinnerungen, seine Erlebnisse und die Geschichten, von denen er erzählen kann.
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch
und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herze bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andere, neue Bindungen zu geben.
(Hermann Hesse)
Nach Thomae (1969) ist Altern ein soziales Schicksal und erst sekundär eine funktionelle oder organische Veränderung.
„Das Alter ist demnach kein statischer Zustand körperlicher, geistiger und wirtschaftlicher Schwäche, sondern ein vielschichtiger, dynamischer Prozess mit neuen Chancen und Aufgaben. Er bietet dem Einzelnen die Möglichkeit der Selbstvervollkommnung und Sinnfindung, der Gesellschaft das Angebot, die angesammelte Erfahrung und Weisheit zu nutzen.“ [Thomae, H. (1969) in: [39]]
Zur Frage des Beginns der Altersphase finden sich folgende Betrachtungen:
„Es ist allerdings inzwischen üblich, (zum Beispiel bei statistischen Erhebungen und in Untersuchungen), den Beginn der Altersphase mit dem Erreichen des 60. Lebensjahres anzusetzen. Weniger wegen der zeitlichen Ausdehnung des Alters, sondern vor allem wegen der großen Verschiedenheit zwischen älteren Menschen, wird vorgeschlagen, sich innerhalb der Population der „Alten“ nicht am kalendarischen Alter, sondern an qualitativen Merkmalen zu orientieren. Je nach Gesundheitszustand, Aktivitätsgrad und individuellem Alterserleben sollte man zum Beispiel die „jungen Alten“ von den „alten Alten“ unterscheiden.“ [33]
„Die Frage, wann das Alter beginnt, ist nicht einfach zu beantworten, zumal aus der Perspektive der Jugend heraus. Für Kinder und Jugendliche sind 50jährige sehr alt; für 70-80jährige hingegen sind die selben 50jährigen noch sehr jung. Untersuchungen zeigen: Mit zunehmendem Lebensalter der Befragten, beginnt das „Alt sein“ zu einem späteren Zeitpunkt, verschiebt sich die Altersgrenze nach oben.“ [Lehr, Ursula: Das neue Altersbild in: [36]]
„Was gibt es angenehmeres als ein Greisenalter,
das umgeben ist von einer Jugend,
die von ihm lernen möchte.“
Cicero, 106-43 v.
Chr.,
[39]
Sich selbst zu akzeptieren, einen Zustand der Selbstübereinstimmung als Ziel der Glückssuche anzusehen und dieses Ziel unter Bedingungen der Selbstgenügsamkeit zu verfolgen, das nehme ich zum Ansatz einer Ethik der „Späten Freiheit“. [Rosenmayr, L. in: [33]]
Innerhalb unseres westlichen Kulturkreises wird Altern im wesentlichen als ein Prozess des unaufhaltsamen Verfalls des Menschen gesehen. Er wird als ein eher biologischer denn geistiger, sozialer oder kultureller Prozess gesehen. Er wird abgelehnt und nicht willkommen geheißen. Er wird eher betrachtet als ein Prozess der universal, bei allen Menschen gleich, und nicht variabel verläuft. Überall in unserer Gesellschaft, in den Massenmedien und im Umgang mit Menschen begegnen wir diesem undifferenzierten Bild, entweder offen ausgesprochen oder in verdeckter Form.
Der biologische Aspekt des Alters ist nur ein einzelner Aspekt, dem meist mehr Beachtung geschenkt wird, als den eben so wichtigen anderen Faktoren, wie die psychischen, sozialen, kulturellen und geistigen Aspekte.
Alte Menschen sind untereinander sehr verschieden und können keinesfalls in ein und die selbe Gruppe eingeordnet werden. Die einzige Gemeinsamkeit ist das gemeinsame Erleben der Geschichte, in der sie aufgewachsen sind und die damit zusammenhängenden gleichen Lebenserfahrungen. Sie haben gleiche historische Ereignisse erlebt und sind vielleicht im gleichen Jahr geboren. Aber sie haben ihr Leben lang auf gleiche, historische Ereignisse in ihrer Einzigartigkeit reagiert. Sie sind unterschiedlich in den Erbanlagen, in der Persönlichkeit, der Stellung, der familiären Konstellation, in ihrer Gruppenzugehörigkeit, in ihrem Eingebundensein in religiösen, ethnischen oder sozialen Gruppen. Dazu kommen die geistigen, sozialen, psychologischen und kulturellen Fähigkeiten und Kenntnisse.
Deshalb müssen wir uns bewusst machen, dass wir vor allem auch unbewusst von einem einheitlichen Bild des alten Menschen geprägt worden sind. Unsere eigenen Ansichten und unsere Haltung gegenüber den Alten wird davon beeinflusst.
Sozialpädagogen sind auch ein Teil der Gesellschaft und sie können sich von vorherrschenden Ansichten kaum lösen. Aber ist es ein Grundsatz der Sozialpädagogik sich selbst die eigenen Einstellungen und Ansichten gegenüber anderen Menschen aller Schichten, Stellungen und ethnischer Herkunft bewusst zu machen. Wir sind als Sozialpädagogen verpflichtet, uns von Vorurteilen und Voreingenommenheiten gegenüber den Menschen, mit denen wir arbeiten, zu lösen. [29]
Das bedeutet für mich, dass ich mich selbst sehr genau kennen muss. Voraussetzung für die Arbeit ist es, mir ein Selbstwertgefühl aufzubauen und eigene Ansichten durch Wissen und Erfahrung zu entwickeln. Diese Ansichten muss ich auch vor anderen vertreten können, auch wenn sie nicht der gängigen, mit Vorurteilen behafteten Meinung der Masse, entsprechen.
Wenn wir als Sozialpädagogen mit älteren Menschen arbeiten, dann müssen wir uns unsere Einstellung zum Leben, zum Tod sowie zum Altwerden bewusst machen. Wir müssen erkennen und annehmen, dass wir selbst alt werden. Je mehr wir Menschen uns damit auseinander setzen, umso besser können wir mit dem eigenen Altern und dem anderer Menschen umgehen. Wir werden es als einen natürlichen Prozess des Lebens betrachten, und ihm ohne Angst gegenübertreten können. In jeder Stufe des Lebens muss sich der Mensch den Aufgaben und Anforderungen stellen und sie so gut wie möglich meistern. Dies ist in jedem Lebensalter der Fall, ob als Kind, als junger Erwachsener, als Mensch in den mittleren Jahren oder als Hochbetagter. Hierauf werde ich, im Kapitel E - Theorie der Lebensphasen von Erikson, noch näher eingehen.
Für mich persönlich bedeutet dies, bevor ich mit alten Menschen zusammenarbeite, mich mit dem eigenen Entwicklungsprozess auseinander zu setzen. Insbesondere mache ich mir klar, dass ich selber einmal alt werde, faltige Haut und weißes Haar bekommen werde. Durch die Auseinandersetzung mit dem Altern und der Annahme für mich selbst, bereite ich mich auf mein eigenes Altwerden vor. Ich stelle mir meine Zukunft vor, meine Wünsche und meine Ängste, die mit dem Alter zusammenhängen.
Durch die praktische Arbeit mit alten Menschen kann ich mir Vorbilder suchen, an denen ich mich für meinen Alterungsprozess orientieren kann.
Durch das Literaturstudium zum Thema „Alter Mensch“ lerne ich auch, dass Altwerden sehr individuell verläuft und von Menschen zum großen Teil selbst mitgestaltet werden kann. Insbesondere zeigen die verschiedenen Alterstheorien, die ich im Kapitel D - Die Alterstheorien, näher vorstellen werde, dass es keine einheitliche wissenschaftliche Theorie zum Altern gibt. Die psychologischen Alterstheorien im Kapitel D3 sowie die sozialpsychologisch orientierten Alterstheorien im Kapitel D4 weisen nach, dass dem Menschen in seinem Alterungsprozess viel Raum zur Selbstgestaltung bleibt.
Durch diese Vorbereitungen habe ich erfahren, dass ich selbst aktiv meinen Alterungsprozess beeinflussen und gestalten kann.
Ein weiterer wichtiger Aspekt im Umgang mit alten Menschen ist die Aufarbeitung der Beziehung zu den eigenen Eltern. Erst dann kann man sich auf die soziale Arbeit mit Alten einlassen. Denn wer sich über das Verhältnis zu den eigenen Eltern und über die Gefühle, die im Zusammenhang mit der Ablösung von ihnen stehen, nicht im klaren ist, der projiziert diese Gefühle oft auf die Alten in der Arbeit. Manche junge Sozialpädagogen handeln dann feindselig oder inkonsequent gegenüber den Alten oder sie kümmern sich aus Mitleid um sie, und steigern damit deren Gefühl der Hilflosigkeit und Abhängigkeit noch mehr.
Wenn wir das Bild des alten, beeinträchtigten und hilfebedürftigen Menschen im Kopf haben, verstärken wir die negativen Einstellungen zum Alter und vergessen die Vielzahl der Menschen, die ohne Hilfe zurechtkommen bzw. die zwar auf einigen Gebieten hilfebedürftig sind, aber auf anderen Gebieten Ressourcen haben.
Die Altenarbeit zwingt also zur Erkundung der eigenen Einstellung gegenüber Alten und dem Gedanken an den Tod und sie verlangt Respekt vor den Menschen und die Überlegung, seine eigene Rolle anders als nur betreuend zu sehen.
Zur sozialen Arbeit gehört deshalb auch das Bemühen, durch Öffentlichkeitsarbeit, ein positiveres Bild über alte Menschen in der Gesellschaft zu schaffen. Vor allem kann man versuchen über die Vorstellung von nachahmenswerten Projekten mit Alten andere zu motivieren und somit ein positiveres Image der Altenarbeit zu forcieren.
Die soziale Arbeit schöpft ihr Wissen aus Kenntnissen einer Vielzahl von Disziplinen, wie der Biologie, Psychologie, Soziologie, Sozialpsychologie, Psychiatrie, Anthropologie, Theologie und sozialpolitischen Maßnahmen, sowie aus dem Recht und anderen. Daneben baut sie auf der Gesamtheit praktischer Erkenntnisse auf, die man als Praxistheorie bezeichnet, die durch Erfahrungen und Aktivitäten vieler Jahrzehnte empirisch gewonnen wurden. Da aber die Grundlagen zur Praxistheorie der Sozialpädagogik auf dem Wissen der verschiedenen Disziplinen beruhen, möchte ich auch an Hand von den verschiedenen Sichtweisen das Alter bzw. Altern erklären. Ich möchte im Folgenden die Alterstheorie der verschiedenen Disziplinen, wie der Biologie, der Psychologie und der Sozialwissenschaft vorstellen.
Die Gerontologie[3] ist die Wissenschaft, welche die Erforschung des Altersprozesses, speziell im höheren Lebensalter zum Gegenstand hat. Die Ziele der Gerontologie sind: durch wissenschaftliche Untersuchungen, die Verhaltensweisen und in der Gerontopsychologie auch das Erleben zu beschreiben. Man versucht das Verhalten und Erleben mithilfe von Gesetzmäßigkeiten und Theorien zu erklären, zukünftiges Verhalten vorauszusagen und es schließlich im Rahmen von Therapien zu kontrollieren. [35]
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alter begann im 19. Jahrhundert zunächst in der Medizin, der heutigen Geriatrie[4]. Der eigentliche Durchbruch gelang der Wissenschaft von Alter und Altern aber erst in den 80er Jahren diesen Jahrhunderts. Die Gerontologie ist heute eine interdisziplinäre Wissenschaft. Entgegen ihrer Wortbedeutung (Geronten, griech. „Greise“) beschäftigt sie sich nicht nur mit der Lebensphase Alter sondern auch mit den Prozessen und Ergebnissen des Alterns. [39]
Gegenstand der gerontologischen Forschung ist nicht nur das hohe Alter, sondern das Altern, und der gesamte Prozess des Älterwerdens. Deshalb ist es notwendig, Personen des dritten, vierten und fünften Lebensjahrzehnts mit in die gerontologische Forschung einzubeziehen. [28]]
Gerontologie beschäftigt sich mit der Beschreibung, Erklärung und Modifikation von körperlichen, psychischen, sozialen, historischen und kulturellen Aspekten des Alterns und des Alters, einschließlich der Analyse von altersrelevanten und alterskonstituierenden Umwelten und sozialen Institutionen. [2]
Aus der Sicht der Biologen beginnt Altern ab dem Zeitpunkt der vollständigen Entwicklung des Organismus. Altern wird als irreversibler Prozess verstanden, gekennzeichnet durch zunehmende Auffälligkeit des Organismus gegenüber toxischen Umwelteinflüssen und führt letztlich zum Sterben innerhalb eines bestimmten artspezifischen Zeitraumes. Biologisches Altern lässt sich auf verschiedenen Ebenen untersuchen: Zellebene, Organebene und Ebene der zentralnervösen Regulation. [35]
Seitens der Psychologie untersucht man den Altersprozess bezüglich Verhaltens und Erlebens, zum Beispiel hinsichtlich Wahrnehmungs-, Denk- und Gedächtnisleistungen oder in Bezug auf Motivation und Befindlichkeit. Aus psychologischer Sicht stellt sich Altern nicht als einheitlicher, linearer und gleichmäßig verlaufender Prozess dar. So kann deutlich in einem Bereich, zum Beispiel in der Wahrnehmung, ein Altersabbau stattfinden und zugleich eine Leistungszunahme in einem anderen Bereich eintreten (Fremdsprachenkenntnisse, Wortschatzumfang, etc.). Es ist kaum möglich, auf altersbezogene Veränderungen zu schließen, da die Unterschiede zwischen den Personen sehr groß sind. Es gibt kaum Durchschnittswerte, deshalb interpretieren auch Psychologen gleiche empirische Ergebnisse unterschiedlich und entwickeln konträre Theorien. Über das Altern gibt es in der Psychologie zwei extreme Ansichten, wobei die überwiegende Mehrheit der Theorien zwischen diesen Extremen angesiedelt sind.
Die erste Theorie wird von der Meinung beherrscht, im höheren Alter würden alle psychologischen Funktionen einem systematischen Abbau unterliegen. Das andere Extrem geht von der Überzeugung aus, dass Funktionseinbußen im wesentlichen auf Fehlern bei der Datenerhebung beruhen. [35]
Sozialpsychologen und Soziologen untersuchen vorwiegend soziale und gesellschaftliche Bedingungen, die für den Alterungsprozess maßgeblich sein können. Sie verstehen Altern als soziales Schicksal, hervorgerufen zum einen durch die Pensionierung, zum anderen durch den von der Gesellschaft provozierten Rückzug aus sozialen Bindungen und Verpflichtungen. Sie sprechen von einem Altersprozess, der nicht zwangläufig typisch ist und damit in gewissen Grenzen vermeidbar wäre. [35]
Ich möchte nun im Folgenden die wichtigsten Alterstheorien vorstellen. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe ich nicht, ich möchte vielmehr einen Überblick darüber vermitteln, wie man bis heute noch versucht Alterungsprozesse zu beschreiben und zu erklären.
Das Altern ist
ein sehr komplexer Prozess. Seit langem suchen Mediziner und Biologen nach
biologischen und physiologischen Ursachen, aber es ist bis heute noch nicht gelungen, eine Theorie zu finden,
die den Altersvorgang in seiner Ganzheit beschreiben und erklären kann. Es gibt
eine Vielzahl von theoretischen Ansätzen, die sich jeweils mit Teilaspekten des
Alterns auseinander setzen. Im Folgenden stelle ich die wichtigsten biologisch
orientierten
Alterstheorien in ihren Grundzügen vor:
Biologische Alterstheorien versuchen Altersveränderungen auf mindestens drei Ebenen zu analysieren: der Zellebene, der Organebene und auf Organismusebene.
Diese Theorien gehen davon aus, dass die Hauptursache für den Alterungsprozess im genetischen Potential, also in der Erbmasse des Lebewesens, zu finden ist. Der altersbedingte Abbau der Funktions- und Leistungsfähigkeit bzw. die Lebensdauer ist nach einem allgemein genetischen Modell durch die Erbanlagen vorprogrammiert. [35]
Um etwas über die eigene Lebenserwartung zu erfahren, sollte man die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa mit der individuellen Vorgabe der Gene in der Familiengeschichte zusammentragen. Diese Zahl ist der ungefähre Punkt, der im persönlichen Einflussbereich liegt. Weitere Faktoren, die hinzukommen, sind persönlicher Lebensstil, das Privatleben und der allgemeine Gesundheitszustand. Man kann durch den eigenen Lebensstil den Spielraum von ca. mindestens plus / minus 10 Jahren Gewinn oder Verlust an Lebensjahren beeinflussen.
Das maximale Alter der Spezies Mensch ist in den Genen festgelegt, die maximale Grenze liegt bei ca. 120 Jahren. Immer wieder hört man von Berichten über uralte Menschen, die weit über 120 Jahre alt geworden sein sollen. Meist zitiertes Beispiel ist der Engländer Thomas Parre aus Shropshire, der angeblich die 125 Jahre erreicht haben soll. Erst später stellte sich heraus, dass er ein Schwindler und bei seinem Tod erst 70 Jahre alt war. Eine bayerische Statistik aus dem Jahre 1871 verweist auf 27 Personen, die alle über 100 Jahre alt geworden sein sollen. Auch hier stellte sich heraus, dass nur eine Person über 100 Jahre alt geworden war.
Immer wieder hört man von Regionen auf dem Erdball, an denen Menschen besonders alt werden. Allerdings sind dies meist Regionen, in denen amtliche Geburtsregister nur lückenweise oder gar nicht vorhanden sind. Vielleicht gibt es diese Geschichten einfach nur deshalb, weil die Menschen sie lieben.
Auf der ganzen Welt träumt man von einem langen Leben. [31]
Ausgangspunkt für die Erkenntnis des genetischen Potentials ist, dass unterschiedliche Arten von Lebewesen verschiede Lebenserwartungen haben. Eintagsfliegen leben nur einen Tag, Menschen leben ca. 70 – 80 Jahre und Hunde ca. 12 – 15 Jahre. Folglich wird ein genetisches Programm angenommen, dass die oberste Grenze der Lebensspanne festsetzt. [35]
Alle Untersuchungen betonen die Macht der Gene, so dass der beste Rat für alle, die über 100 Jahre alt werden möchten, immer sein wird: „Gucke Dir sorgfältig die richtigen Eltern aus“. [31]
Unterstützt wird dies durch Untersuchungen von Dublin, Lotka und Spiegelmann, die besagen, dass Menschen mit alten Eltern und Großeltern häufig selbst auch älter werden, als Menschen, deren Vorfahren früh eines natürlichen Todes gestorben sind. [35]
Dieses Modell ist zwar sehr einleuchtend, es darf aber nicht vergessen werden, dass das genetische Potential immer in Interaktion mit Umweltgegebenheiten steht, also immer eine Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt existiert. Extrem ungünstige Umweltbedingungen können den Abbau beschleunigen, hingegen würden optimale Umweltverhältnisse den Abbau der Funktions- und Leistungsfähigkeit alter Menschen reduzieren.
Als Ursache werden hier Mutationen, also sprunghafte Veränderungen in der DNS-Struktur gesehen. Entstandene Lücken oder Überkreuzungen, die durch diese Mutationen entstehen, verändern im DNS-Strang die genetische Botschaft.
Zum einen wird die Zelle unfähig, nach dem alten DNS-Muster identische Tochterzellen zu reproduzieren und zum anderen überträgt sie die Strukturveränderung auch auf die nachfolgende Zellgeneration.
Darüber hinaus wird die Zelle durch die Veränderung gehindert, Proteine mit der korrekten Struktur zu bilden. Diese Faktoren führen zu einem Nachlassen der Funktionsfähigkeit der Zelle und des gesamten Organismus. Die Mutationen führen zum Altern und schließlich zum Tod.
Zustande kommen die Mutationen spontan oder durch energiereiche Strahlen, wie zum Beispiel Röntgen- und UV-Strahlung.
Allerdings gilt die Mutationstheorie weitgehend als überholt, da neue Studien gezeigt haben, dass die meisten Zellen über einen Mechanismus verfügen, der es ermöglicht, DNS-Schäden selbst zu reparieren.
Alterseffekte sind primär in Zellen angesiedelt, die sich nur während des Wachstums, also im Kindes- und Jugendalter teilen (zum Beispiel die Nervenzellen). Mutationen hingegen können aber vorwiegend nur im Anschluss einer Zellteilung beobachtet werden. Deshalb kann die Mutation keinen großen Einfluss auf das Altern haben. [35]
Die Fehlertheorie oder auch Error-Theorie wurde von Medvedev begründet. Sie lehnt ihre Theorie an die Mutationstheorie an und verknüpft sie mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft. Intakte Zellen verfügen über verschiedene Reparaturmechanismen, um Schäden in der DNS-Struktur selbst zu beseitigen. Allerdings ist die Reparatur von Fehlern unmöglich, bzw. erschwert, wenn der Schaden in der sogenannten RNS auftritt. Das Altern und der Tod sind die Folge von Fehlern bei der Informationsübertragung der RNS.
Die Fehlertheorie wird ebenfalls kritisiert, da Medvedev keine konkreten Angaben über genaue Positionen der Fehler liefern kann. Die Details des Transferprozesses sind noch weitgehend unbekannt. Daher kann die Art des Fehlers nicht genau bestimmt werden.
Allerdings bietet die Fehlertheorie, wenn die technologische Entwicklung weiter fortgeschritten ist, gute Möglichkeiten für weitere experimentelle Untersuchungen. [35]
Hier stehen Störungen des Zellstoffwechsels (Metabolismus) als Ursache für den Alterungsprozess im Vordergrund. Durch den Zellstoffwechsel wird ein ständiger Auf- und Abbau einzelner Körperzellen und die Funktionsfähigkeit des Organismus gewährleistet. Alle Lebewesen befinden sich im ständigen Stoffaustausch mit ihrer Umwelt. Sie nehmen Stoffe, wie Vitamine oder Fettsäuren auf, verarbeiten sie zu Strukturbausteinen oder Energie und geben Abfallstoffe wieder an die Umwelt ab. Treten Störungen im Zellstoffwechsel auf, so können Körperzellen nicht mehr genügend aufgebaut werden und die Funktionsfähigkeit des Organismus lässt nach. Dies führt dann zum Altern und schließlich zum Tod. [35]
Die falsche Verteilung der wichtigsten Nährstoffe auf einzelne Körperzellen führt zu einer vaskulären Degeneration (Degeneration der Blutgefäße), in Form von Gefäßverengungen.
Können einzelne Zellen oder Gewebe nicht genügend mit Blut und folglich mit Sauerstoff sowie wichtigen Nährstoffen versorgt werden, sterben sie ab. Dies führt zu einem Alterungsprozess im gesamten Organismus und schließlich zum Tod.
Allerdings gilt die Deprivationstheorie als nicht geeignet, um Alter zu erklären. Man findet bei alten Menschen weder Hinweise auf eine systematische Reduktion des Sauerstoffgehaltes im Blut, noch eine Verringerung des Blutzuckerspiegels. Auch im Alter können Zellen noch genügend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden. [35]
Hier wird angenommen, dass der Alterungsprozess durch Ansammlung schädlicher Stoffe innerhalb der Zelle bedingt ist. Mit zunehmendem Alter wurde eine Ablagerung von unlöslichen Schadstoffen in Zellen und Geweben festgestellt. Diese können am Ende ein Drittel des Zellvolumens einnehmen. Sie hemmen den Zellstoffwechsel und führen zum Tod der Zelle.
Allerdings ist bis heute der Nachweis einer tatsächlichen Beeinträchtigung der Zellaktivität durch Schadstoffe nicht gelungen.
Um den Alterungsprozess erklären zu können, müsste der Nachweis geführt werden, dass nur die Schadstoffe, die im Alter aufgenommen worden sind, den Prozess auslösen. [35]
Freie Radikale sind chemische Verbindungen. Sie gehen auch mit anderen Elementen, die in der Zelle vorkommen, weitere Verbindungen ein. Freie Radikale enthalten Sauerstoff in hochkonzentrierter Form und verändern die Struktur und Funktion von Enzymen und Proteinen.
Diese Veränderungen beeinflussen den Alterungsprozess. Die Anzahl der Veränderungen wird vermutlich durch radioaktive Strahlung vergrößert und lässt sich durch Antioxidationsmittel verringern.
Auch diese Theorie konnte noch nicht exakt bewiesen werden. [35]
Die Alterstheorie durch freie Radikale wird auch als Verschleißtheorie bezeichnet. Sie wird auf die Entstehung der angriffslustigen Teilchen zurückgeführt. Freie Radikale entstehen nicht nur bei normalen Stoffwechselvorgängen im Körper, sondern auch durch Stress, Angst und psychische Belastungen. Auch von außen erreichen sie uns durch UV-Licht, Tabakrauch, Ozon, erhöhten Alkoholkonsum, Medikamente und Umweltgifte.
Die Defekte der DNA werden bei jeder Zellteilung weitergegeben und durchsetzen den Körper mit immer mehr schadhaften Zellen, wodurch er altert.
Vertreter der Verschleißtheorie behaupten, ohne freie Radikale würden alle Lebewesen bis in die Unendlichkeit weiter leben. [31]
Eine Alterstheorie wird als Programmtheorie bezeichnet.
Ihre Vertreter gehen von einer inneren Uhr aus, die sich in den Erbanlagen befindet. Nach dieser Theorie altern alle Zellen und somit auch der Mensch nicht durch Verschleiß, sondern nach einem festgelegten Genprogramm, einer angeborenen, inneren Uhr. Am Ende der Chromosomen fanden Forscher Eiweißverbindungen, sogenannte Telomere. Sie umschließen Endstücke der DNA als Schutzkappe und bei jeder Zellteilung werden sie etwas kürzer. Sind sie zerstört, ist die Erbsubstanz ungeschützt, die Zelle stirbt. [31]
Der Organismus des Menschen ist aus einzelnen Organen aufgebaut, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen und die Funktionsfähigkeit aufrecht erhalten. Altern wird hier beschrieben als Folge von Funktionsverlusten der einzelnen Organe, die zu Abbauerscheinungen des Köpers führen. Durch den Funktionsverlust einzelner lebenswichtiger Organe wird der Alterungsprozess durch den Tod beendet.
Allerdings wird in dieser Theorie ein Zusammenhang zwischen den Organen und dem restlichen Organismus nicht hergestellt. [35]
Die Schilddrüse ist eine unterhalb des Kehlkopfes befindliche Drüse mit innerer Sekretion. Sie produziert Hormone, die die inneren Abläufe des Organismus steuern. Zum reibungslosen Ablauf des Zellstoffwechsels sind Schilddrüsenhormone verantwortlich.
Die Theorie besagt, dass die Leistungsfähigkeit der Hormonproduktion mit zunehmendem Altern nachlässt. Bei Patienten mit Schilddrüsenfunktionsstörungen, sowie bei älteren Menschen zeigen sich ähnliche Symptome, wie zum Beispiel Haarausfall und verlängerte Reaktionszeiten. Durch diese Beobachtungen wurde die Schilddrüsenfunktionstheorie gestärkt.
Auch diese Theorie verlor an Beweiskraft. Durch Verabreichung schilddrüsenstimulierender Substanzen kann die Hormonausschüttung reguliert werden, jedoch haben Untersuchungen gezeigt, dass hierdurch der Alterungsprozess nicht aufgehalten werden konnte. [35]
Die Hypophyse (Hirnanhangdrüse) ist ein Organ, dass sich an der Unterseite des Großhirns befindet und innere Sekretion bildet. Die Funktion der Hypophyse besteht in der Regulierung der übrigen Hormondrüsen wie zum Beispiel Schilddrüse, Nebennieren und Keimdrüsen.
Nach dieser Theorie kommt es zum Alterungsprozess, wenn die Hypophyse nicht mehr angemessen arbeiten kann.
Auch diesem Modell mangelt es noch an Beweiskraft. [35]
Altern wird hier durch fortschreitende Veränderungen in der Gehirnstruktur erklärt.
Die Schaltzentrale des Körpers ist das Gehirn, welches durch Nervenfasern (Neuronen) mit der Peripherie (gesamter Organismus mit Ausnahme des Gehirns und des Rückenmarks) verbunden ist.
Die für den Organismus lebensnotwendige Informationsverarbeitung wird durch den Verlust von Gehirnzellen und durch Ablagerungen von Rückständen im Gehirn gehemmt. Nach dieser Theorie sind Abbauerscheinungen, die für das Alter charakteristisch sind, die Folge.
Im ungünstigsten Fall kann es zur völligen Orientierungslosigkeit kommen.[35]
Äußere Reize, wie Temperaturschwankungen, Hunger und Durst bewirken eine Veränderung des momentanen Zustandes des Organismus. Eine Anpassung des Individuums an die äußere Situation ist erforderlich. Die Selbstregulationsmechanismen haben die Fähigkeit, dem Organismus zum Überleben zu helfen, auch wenn Störungen aus der Umwelt das Leben beeinträchtigen.
Mit zunehmendem Alter wird die Fähigkeit zur Selbstregulation verringert, bis die Fehler in den Anpassungs- und Kontrollmechanismen schließlich zum Tod des Individuums führen.
Auch diese Theorie kann den Alterungsprozess und den Tod des Menschen nicht vollständig erklären. [35]
Das Nervensystem regelt die Blutdruck- und die Temperaturregulation.
Steigt der Blutdruck, aktivieren Zellen in den Blutgefäßen den Vagus-Nerv, der die Herzfrequenz senkt. Ein Absinken des Arterieninnendrucks hat eine Herzfrequenzsteigerung zur Folge.
Mit dem Älterwerden des Organismus funktioniert die Autoregulation des Blutdrucks weniger gut. Tierexperimente zeigen, dass die Herzfrequenz nach einer künstlichen Blutdrucksteigerung bei älteren Tieren langsamer sinkt als bei jüngeren. Gestützt wird die Theorie auch durch die Beobachtung, dass viele alte Menschen an Bluthochdruck leiden. [35]
Der Mensch hat die Fähigkeit, seine Körpertemperatur unabhängig von den Schwankungen der Umgebungstemperatur innerhalb gewisser Grenzen auf einem konstanten Niveau zu halten. Der Mensch kann dies durch autonom ablaufende Mechanismen und durch bestimmte Verhaltensweisen (zum Beispiel Kleidung, warmes Getränk, Heizung) regeln.
Auch die Temperaturregulationsmechanismen verlieren mit dem Altwerden ihre Wirksamkeit. In Tierexperimenten zeigt sich, dass alte Tiere ihre Körpertemperatur schlechter aufrecht erhalten können, als jüngere. [35]
Das endokrine Kontrollsystem umfasst alle Drüsen, die Hormone produzieren und an die Blutbahn abgeben. Wenn Hormone durch Störungen nicht wirksam werden können, hat dies einen Funktionsverlust einzelner Zellen zur Folge. Dies wirkt sich auch auf Organe und schließlich auf den gesamten Organismus aus.
Untersuchungen zeigen, dass das endokrine Kontrollsystem im Alter gestört werden kann. Gewebe hat im Alter eine reduzierte Bindungsfähigkeit bei Tieren aufgewiesen. Ältere Nieren können im geringeren Maße auf eine standardisierte Menge Hormone reagieren als junge Nieren. [35]
Jedes Individuum wird sein Leben lang Stress ausgesetzt. Stress ist der Sammelbegriff für jede organische und psychische Belastung, die vom Individuum als solche erlebt wird und Anpassungsleistungen erfordert (körperliche Arbeit, Sorgen, Hitze, Kälte).
Um die für das Überleben erforderliche Anpassungsleistung zu erbringen, hat, nach Selye, jeder Mensch eine gewisse Grundmenge an Anpassungsenergie von Geburt an mitbekommen, die mit der Zeit aufgebraucht wird.
Altern ist
demnach ein fortschreitender Prozess, der nach Aufbrauchen der
Anpassungsenergie mit dem Tod endet. Die Stresstheorie ist nicht ausreichend,
um den Alterungsprozess zu erklären. Es konnte nicht bewiesen werden, dass eine
genetisch determinierte Grundmenge an Anpassungsenergie durch
Stressereignisse allmählich aufgebraucht wird. [35]
Die biologische Alterstheorie beschäftigt sich nur mit den biologischen Ursachen und Begleiterscheinungen des Alterns. Die psychologisch orientierten Ansätze beschäftigen sich vorwiegend mit den psychischen Aspekten, also mit den Veränderungen im menschlichen Verhalten und Erleben, sowie mit den Problemen, die daraus für den Einzelnen resultieren.
Bedeutendste Vertreter dieser Theorie sind Wechsler, Lehmann und Botwinick (1970).
Das Defizitmodell betrachtet Altern als pathologische Variante des normalen menschlichen Verhaltens, mit der, im Gegensatz zu allen anderen pathologischen Erscheinungen, alle Menschen im Laufe des Lebens konfrontiert werden.
Altern wird als ein Prozess des Verlustes, des Abbaus emotionaler und intellektueller Fähigkeiten betrachtet.
Behauptungen besagen, ältere Menschen können sich schwer auf Neues einstellen, sie hängen ausschließlich am Althergebrachten. Sie sind weniger aktiv, spontan und ansprechbar (Arbeitsgruppe, Altenforschung Bonn 1976).
Die Untersuchen zur Überprüfung des Defizitmodells bestehen aus Überprüfungen der geistigen Fähigkeit. Mit dem Army – Alpha – Test stellte Yerkes 1921 fest, dass Intelligenzleistungen von Männern schon ab dem 30. Lebensjahr einem Altersdefizit unterworfen sind. Als Ergebnis galt seither die Entdeckung, dass ältere Menschen im Durchschnitt einen niedrigeren Intelligenzquotienten (IQ) aufweisen als jüngere. Methodisch haben die Untersuchungen den Nachteil eines nichtstandardisierten Testverfahrens, dessen Ergebnisse schwer miteinander vergleichbar sind.
Wechsler bestätigte die Untersuchung 1944 mit der Konstruktion der Bellevue–Wechsler–Intelligenzskala. Dadurch wurde das Defizitmodell sehr populär und trug zur Beeinflussung der beruflichen Situation von älteren Arbeitnehmern bei. Der ältere Arbeitnehmer hat in der heutigen Leistungsgesellschaft deutlich verminderte Einstellungs- und Aufstiegschancen. Auch für seine Aus- und Weiterbildung wird weniger getan, als für jüngere Arbeitnehmer.
Das Defizitmodell wurde vor allem in den 60er und 70er Jahren auf der Grundlage verschiedener Studien kritisiert.
Bedeutsame Argumente sind unter anderem, dass es die Intelligenz nicht gibt, sondern sie aus mehreren einzelnen Primärfunktionen, wie zum Beispiel praktische Urteilsfähigkeit, Merkfähigkeit usw. besteht.
Man kann eine Abnahme von Fähigkeiten der sogenannten „fluid intelligence“ und eine Zunahme der Fähigkeiten, die mit dem Begriff „crystallized intelligence“ bezeichnet werden, bei alten Menschen feststellen (Horn und Catell 1966).
Mit der „fluid intelligence“ ist die flüssige Intelligenz gemeint, die Wendigkeit, Kombinationsfähigkeit oder Flexibilität umfasst.
Die „crystallized intelligence“ ist die kristallisierte Intelligenz, die Erfahrungswissen oder Wortschatz beinhaltet.
In Untersuchungen wurde bewiesen, dass ältere Menschen im Durchschnitt die gleichen geistigen Leistungen erbringen wie jüngere, sie aber mehr Zeit dafür benötigen.
Heftige Kritik wurde auch deshalb geübt, weil zu den vergangenen Untersuchungen oft alte, kränkliche Menschen, jungen, gesunden Personen gegenübergestellt wurden. Die gesundheitliche Untersuchung blieb völlig unberücksichtigt. Spieth zeigte 1965, dass die geistige Leistung eines Menschen stark vom gesundheitlichen Zustand abhängt. Daraus schließen wir beim Defizitmodell, dass alte Menschen nicht deshalb schlechte Leistungen erbringen, weil sie alt, sondern weil sie kränklicher sind.
Das Defizitmodell wurde mit einer Querschnittsuntersuchung durchgeführt. Dadurch wurden Stichproben bestimmter Geburtenjahrgänge im Hinblick auf ihre intellektuellen Fähigkeiten untersucht. Hierbei blieb völlig unberücksichtigt, dass die Personen der unterschiedlichen Geburtenjahrgänge auch eine unterschiedliche Schulbildung durchlaufen haben. Die geistige Leistungsfähigkeit ist aber überwiegend bildungsabhängig. Die schlechtere Testleistung einer älteren Person kann auch an der damals weniger qualifizierten Schulausbildung liegen.
Das Defizitmodell der geistigen Entwicklung wurde deshalb weitgehend revidiert. [35]
Heute ist sich die Wissenschaft einig: Eine rege geistige und regelmäßige körperliche Aktivität verlangsamt den körperlichen Abbau des Menschen. Die geistige Leistung muss im Alter nicht abnehmen, wie es meist angenommen wird.
Bestimmte Facetten der sogenannten pragmatischen Intelligenz, die zuständig für die Anwendung von Wissen und Erfahrung ist, kann sogar wachsen. Die Weisheit des Alters findet also wissenschaftliche Bestätigung. Die Chinesen haben große Achtung vor den greisen Weisen. Konfuzius ist der berühmte Philosoph des Alterns und Verteidiger der Alten und in China seit vielen Jahrhunderten der wichtigste Denker neben Laotse.
Am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung wurde festgestellt, dass Senioren in Bereichen der mechanischen Intelligenz über ein großes unausgeschöpftes Potential verfügen. Dieser Bereich weist normalerweise einen Verlust im Alter auf. Also durch Übung kann man auch im Alter noch über ein gutes Gedächtnis verfügen.
Den Rekord im Max-Planck-Institut stellte eine 70jährige Frau auf, die sich 120 Zahlen in der richtigen Reihenfolge merken konnte.[31].
Die kognitive Alterstheorie wurde von Thomae 1968-1970 entwickelt.
Im Mittelpunkt steht die subjektive Seite des Älterwerdens. Es geht darum, wie der alternde Mensch objektive Gegebenheiten subjektiv erlebt und für sich interpretiert.
Diese Sichtweise ist deshalb auch objektiv bedeutsam, da das Verhalten eines Individuums auch durch die Art und Weise bestimmt wird, wie es sich selbst und seine Umwelt wahrnimmt. Hierbei ist vor allem die Auseinandersetzung mit der persönlichen Erscheinung, der sozialen Integration bzw. Isolierung und die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Daseins gemeint.
Durch die kognitive Alterstheorie wird deutlich, dass es das Altern nicht gibt, sondern es nimmt bei jedem einen eigenen, individuellen Verlauf.
Die Verhaltensänderungen eines Individuums stehen im engeren Zusammenhang mit subjektiv erlebten Veränderungen, als mit objektiven Umweltveränderungen. Die Verhaltensveränderung des Sich-Zurückziehens steht im Zusammenhang damit, wie eine objektive Änderung zum Beispiel „Die Kinder sind erwachsen und führen ihr eigenes Leben“ ganz subjektiv erlebt wird.
Die Voraussetzung für ein erfolgreiches und zufriedenes Altern ist das Gleichgewicht zwischen der kognitiven Struktur, den eigenen Bedürfnissen und der erlebten Realität.
Wenn der alternde Mensch das „Aus-dem-Haus-gehen“ seiner erwachsenen Kinder als positiv erlebt, weil er von vorneherein, also auch als die Kinder noch klein waren, den Wunsch hatte, sie zur Selbstständigkeit zu erziehen und nicht ein Abhängigkeitsverhältnis entwickelt hat, dann wird er das Erlebnis an sich, als nicht belastend empfinden. Hat er aber dieses Ziel nicht, weil er durch die Kinder eine Aufwertung seiner Selbst empfindet, dann wird es ihn belasten, wenn die Kinder selbständig werden und ihn immer weniger brauchen. Durch das egoistische Festhalten an den Kindern, um eigenen Bedürfnissen nachzukommen, wird es ihm schwer fallen, wenn die Kinder fortgehen. Er wird sich als Opfer, als überflüssig und im Wege stehend empfinden und die Situation des Alterns negativ bewerten.
Sind die objektive Situation und die Wunschvorstellung in einen Konflikt geraten und ist die Änderung der Situation nicht möglich, so kann ein therapeutisches Gespräch für den alternden Menschen sinnvoll sein, um ihm zu helfen, zu einer anderen Sichtweise der Situation zu gelangen.
Die kognitive Theorie des Alterns hat eine große Bedeutung für die Altersforschung. Wie sehr die subjektive Wahrnehmung eines Menschen sein Verhalten und seinen Alterungsprozess beeinflussen kann, zeigt die subjektive Beurteilung der alternden Menschen zu ihrem Gesundheitszustand.
Theißen stellte 1970 fest, dass der vom Arzt diagnostizierte Gesundheitszustand und die Anzahl der physischen Symptome unabhängig vom subjektiv gesundheitlichen Wohlbefinden sind.
Es gibt
Patienten, die sich gesund fühlen, obwohl sie laut ärztlicher Diagnose an
verschiedenen gesundheitlichen Störungen leiden.
Andererseits fühlen sich Patienten sehr krank, obwohl sie vom ärztlichen
Standpunkt aus als gesund betrachtet werden können.
Durch Persönlichkeitsstruktur, innere und äußere Gegebenheiten der Lebenssituation
und lebenslange Erfahrungen sowie die Zukunftsorientierung, werden die
Wahrnehmungen beeinflusst. Die Einschätzung des Gesundheitszustandes hat
Auswirkungen auf viele Bereiche: Personen die sich gesund fühlen, unabhängig
von der Diagnose, sind leistungsfähiger, unternehmungslustiger, anerkannter,
zufriedener, aktiver und entwickeln mehr Zukunftspläne, als Personen, die sich
kränklicher fühlen. [Thomae,
H. (1969) in [1], [3]]
Damit wird deutlich, dass der Alterungsprozess auf individueller und subjektiver Ebene betrachtet werden sollte. Jeder Mensch hat seinen eigenen, individuellen Alterungsverlauf, der stark von subjektiver Wahrnehmung, subjektiven Bedürfnissen und Sichtweisen beeinflusst wird.
Diese Theorien versuchen Altern aus der Sichtweise der Sozialpsychologie zu betrachten und stellen die Frage, welche sozialpsychologischen Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein zufriedenes und erfolgreiches Altern möglich ist.
Altern wird hier auf der Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen beschrieben.
Dieser Ansatz wurde weitgehend in den USA, unter anderem von Havighurst (1953) entwickelt und dann später von Lemon, Bengtson und Peterson (1972) weiterentwickelt.
Die Aktivitätstheoretiker stellen die Frage danach, welche Form des Alterns dem Menschen ein Höchstmaß an Zufriedenheit gewährt. Sie postulieren einen engen Zusammenhang zwischen sozialen Aktivitäten (Intensität und Intimität der sozialen Kontakte) und der Lebenszufriedenheit. Sie gehen von der Annahme aus, dass jeder Mensch in der Gesellschaft in der er lebt, spezifische soziale Rollen, wie Berufrolle oder im privaten Bereich die Rolle des Ehepartners oder Elternteils erfüllt. Die Rollen werden überwiegend durch soziale Interaktion realisiert.
Laut Havighurst empfindet der Mensch diesen sozialen Rollenkontakt als positiv und möchte ihn auch im Alter beibehalten. Allerdings wird die Befriedigung des Bedürfnisses mit zunehmendem Alter eingeschränkt, zum Beispiel durch die Pensionierung, den eigenen gesundheitlichen Abbau oder den Tod einer Kontaktperson.
Tartler nennt zusätzlich die Auflösung der Großfamilie, wodurch der alte Mensch das Gefühl des „Überflüssig-Seins“ bekommt. Die Rolle des Traditionsvermittlers durch den alten Menschen hat an Bedeutung verloren. Durch räumliche Distanz, zum Beispiel das Leben im Altenheim, werden Kontaktmöglichkeiten auch mit der Familie begrenzt. Dieser Rollenverlust bewirkt ein geringeres Selbstwertgefühl und schränkt die Aktivität des alten Menschen immer mehr ein. Er wird zu Inaktivität gezwungen und unzufriedener.
Um die Rollen- und Kontaktverluste auszugleichen, braucht der alte Mensch zum Beispiel Hobbys, einen Freundeskreis oder Zuwendung durch praxisorientierte Altenarbeit, die an Stelle des Verlustes treten. So kann er sein Aktivitätsbedürfnis wieder befriedigen.
Die Aktivitätstheorie wurde in zahlreichen empirischen Studien nachgewiesen und gilt als äußerst bedeutend für die Altersforschung.
Allerdings kann man nicht verallgemeinernd davon ausgehen, dass viele soziale Kontakte ein zufriedenes Altern bedingen. Vielmehr ist die Kongruenz zwischen tatsächlichem und dem gewünschten Teilhaben am sozialen Leben bedeutend.
Wenn Beziehungen und ihre Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit beschrieben werden, so darf die Betrachtung der individuellen Persönlichkeitsstruktur jedes Einzelnen nicht unbeachtet bleiben. Jeder Mensch hat ein unterschiedliches Bedürfnis nach sozialen Kontakten. [35]
Diese Theorie geht genau wie die Aktivitätstheorie von der Beobachtung aus, dass ältere Menschen weniger soziale Kontakte pflegen, beziehungsweise weniger aktiv sind, als Menschen in anderen Lebensaltern.
Mit Disengagement ist Loslösung oder „Sich-Zurückziehen“ gemeint.
Die Aktivitätstheoretiker stellen den sozialen Rückzug als von der Gesellschaft beeinflusst und sich meist gegen den Willen des Menschen gerichtet dar.
Im Gegensatz dazu gehen die Vertreter der Disengagementtheorie von der Annahme eines „Sich-Selbst-Zurückziehenden“ alternden Menschen aus. Der Rückzug sei von der Gesellschaft und ebenso vom alten Menschen gleichermaßen erwünscht und die Reduzierung der sozialen Kontakte sei die Voraussetzung für ein zufriedenes Altern.
Disengagement wird als unvermeidlicher Prozess angesehen, der zu dem Zeitpunkt beginnt, wenn der Mensch sich der Abnahme seiner Fähigkeiten und des bevorstehenden Todes bewusst wird und endet mit dem Tod des Menschen. Anfang und Ende des Prozesses sind je nach Individuum unterschiedlich.
Die Theorie wurde von Elaine Cumming und W. Henry (1961) begründet und enthält neun Grundannahmen. Der Disengagementsprozess wird als positiv bezeichnet, wenn das Disengagement zur gleichen Zeit von der Gesellschaft und vom alternden Menschen, wenn er zum Beispiel das Nachlassen seiner Fähigkeiten spürt, angestrebt wird. Zu Konflikten kommt es dann, wenn die Gesellschaft dem alten Menschen den Rückzug nahe legt und er jedoch weiterhin aktiv bleiben möchte.
Nach Havighursts Untersuchungen sind Menschen mit passiveren, häuslicheren Lebensweisen im Alter zufriedener, wenn ihnen ein Rückzug ermöglicht wird, weil sie darin eine Erleichterung verspüren.
Menschen, die generell schon immer aktiver waren und stets viele Kontakte gepflegt haben, werden im Alter zufriedener sein, wenn sie ihren Lebensstil beibehalten können.
Nach dieser Untersuchung wird die Disengagementtheorie, die besagt, dass im Alter die Lebenszufriedenheit immer mit einer Verringerung der sozialen Aktivität einher geht, bezweifelt. Auch andere Studien von Fröhlich, Becker & Bigit wiederlegten die Theorie. Sie stellten in ihren Untersuchungen eine hohe Übereinstimmung von Aktivität und Lebenszufriedenheit, sowie zwischen geringerer Aktivität und weniger Lebensfreude fest.
Beide Theorien, die Aktivitätstheorie und die Disengagementtheorie haben zahlreiche empirische Untersuchungen ausgelöst, von denen meist die Aktivitätstheorie bestätigt wurde. Trotz heftiger Kritik sollte man positiv bemerken: Es ist der Verdienst der Disengagementtheorie, dass sozialpsychologische Aspekte in der gerontologischen Forschung in den Vordergrund gerückt sind. [35]
Es geht nach Zublin (1973) davon aus, dass mit dem Älterwerden viele Funktionen und Fähigkeiten nachlassen oder sogar ganz verloren gehen.
In diesem Modell werden als Ursache vor allem die ökologischen Gegebenheiten dargestellt. Die Umgebung, in der das Individuum lebt, zum Beispiel Klima, Wohnsituation, Infrastruktur, Verkehrslage usw. beeinflussen den Alterungsprozess.
Günstige Umweltbedingungen, die auf die Bedürfnisse der Älteren zugeschnitten sind und ihm Eigenaktivität ermöglichen, führen zu einer Verringerung des Fähigkeits- und Funktionsverlustes.
Ungünstige Umweltbedingungen produzieren hingegen Funktionsverluste, vor allem bei denjenigen, die im Bezug auf Gesundheit, geistiger Beweglichkeit und sozialer Kontaktfähigkeit an sich schon benachteiligt sind.
Die Theorie besagt, je schlechter es jemanden geht, umso wichtiger werden ökologische Faktoren, die die Aktivität des Individuums fördern oder hemmen.
Den ökologischen Bedingungen wurde bislang in der Altersforschung zu wenig Bedeutung beigemessen. Da die ökologische Situation eines Menschen einen wesentlichen Teil seines Lebensraumes ausmacht, sollte sie stärker in gerontopsychologischen Untersuchungen beachtet werden.
Wohnt zum Beispiel ein leicht gehbehinderter Mensch im vierten Stock eines Hauses ohne Aufzug und hat auch keinen Telefonanschluß, so ist er in seinem Aktionsradius stark eingeschränkt. Je stärker die Behinderung, um so massiver wirkt die Beeinflussung durch ökologische Gegebenheiten auf Aktivität, soziale Beziehungen und Lebenszufriedenheit.
Allerdings beeinflussen nicht nur objektive Umweltgegebenheiten die Lebenszufriedenheit des Menschen, sondern, wie schon in der kognitiven Alterstheorie beschrieben, vor allem die Art und Weise wie der Einzelne seine Umwelt erlebt und was sie für ihn subjektiv bedeutet. [35]
Der bekannte Psychologe Erik Erikson schuf die Theorie von den Lebensphasen, den Entwicklungsstadien und Entwicklungsaufgaben des Lebens.
Er geht davon aus, dass sich die Aufgaben mit dem Lebensalter ändern. Wie gut wir eine Aufgabe in einem bestimmten Alter erfüllen, hängt davon ab, wie gut wir frühere Aufgaben in einem vorherigen Lebensabschnitt gelöst haben. Von Geburt an bis zum Lebensende sind wir bemüht, diese Aufgaben zu erfüllen. Selten erfüllen wir die Lebensaufgaben ganz. Wir bekommen aber immer wieder neue Chancen hinzu. Ungelöste Aufgaben plagen uns und verfolgen uns bis ins hohe Alter, lange Zeit vergrabene Gefühle brechen im Alter wieder hervor.
Naomi Feil stellt die Lebensphasen von Erikson in ihrem Buch „Validation“ vor und fügt dem noch eine weitere Phase hinzu.
Hier besteht unsere Aufgabe darin, Vertrauen zu entwickeln. Wir lernen darauf zu vertrauen, dass die Mutter immer wieder kommt. Wir überstehen Kälte, Wärme und Hunger. Wir werden von der Mutter geliebt und können uns selbst lieben, weil wir liebenswert sind. Wird dieses Vertrauen dadurch gebrochen, dass die Mutter dem Säugling zu wenig Zuwendung schenkt oder nicht wieder zurückkehrt, wird das Kind das Vertrauen nicht aufbauen können. Es wird auch später misstrauisch gegenüber anderen sein. Wenn dem Kind das Selbstvertrauen fehlt, kann es sich selber nicht lieben. Es fühlt sich oft als Opfer, leugnet eigene Verantwortung und sucht jemanden, den es beschuldigen kann.
Ist die Aufgabe im frühkindlichen Alter misslungen, wird dieses Misstrauen den Menschen sein ganzes Leben begleiten, sogar bis ins hohe Alter. Wird aus dem Jungen ein alter Mann, der stürzt, weil seine Knie von Arthritis geschwächt sind, wird er die Putzfrau beschuldigen, sie habe absichtlich den Boden nicht trocken gewischt.
Auch Angst, die in der Kindheit nicht eingestanden wird, taucht im Alter wieder auf. Wenn wir von klein auf lernen, dass wir Liebe nur durch eigene Perfektion erfahren, vergrößert sich dies als Last bis ins hohe Alter. Auch im Alter tragen wir das Bedürfnis nach strikter Kontrolle in uns. Wir zeigen keine Gefühle, keine Schwächen, vermeiden Fehler und werden sie vor allem vor anderen nicht eingestehen. Aber gerade im Alter können wir Fehler nicht vermeiden, die Kontrolle lässt nach. Viele horten dann ihre Besitztümer und bewahren diese am richtigen Ort auf. Verlieren sie etwas oder verlegen sie es, beschuldigen sie andere, es gestohlen zu haben. Wenn das Bett der alten Frau nass ist, regt sie sich über den Handwerker auf, der das Dach ihrer Meinung nach nicht repariert hat und schuld ist, dass der Regen auf ihr Bett tropft. Sie kann sich oder anderen ihre Inkontinenz nicht eingestehen. Je mehr Dinge außer Kontrolle geraten, um so mehr horten die Menschen zum Beispiel in ihrer Handtasche.
In der Kindheit lernen wir, Regeln zu befolgen und Selbstkontrolle zu erlangen. Misslingt uns diese Aufgabe, schämen wir uns. Es entstehen Schuldgefühle und Selbstvorwürfe. Auch diese können den Menschen bis ins hohe Alter begleiten.
Als Teenager haben wir die Aufgabe uns abzunabeln. Wir rebellieren. Wir lehnen uns gegen Regeln auf und lernen unsere eigenen Werte zu entdecken. Wir stellen unsere eigenen Gesetze auf. Wir versuchen herauszufinden, wer wir sind, um uns von unserer Familie loszulösen. Oft verfluchen wir unsere Eltern, um diese Abnabelung zu vollziehen. Wenn wir in der 1. Phase gelernt haben, dass unsere Eltern uns auch dann lieben, wenn wir gegen sie kämpfen, können wir die Rebellion wagen. Besteht aber die Angst, wir könnten die Liebe der Eltern verlieren, dann kapitulieren wir, sind brav und lieb. Wir verhalten uns entsprechend den Erwartungen unserer Eltern. Dabei lernen wir aber nicht, wer wir eigentlich sind, ohne unsere Eltern und ohne Autorität. Wir sind Musterschüler und im Berufsleben anerkannt. Aber unsere eigene Identität und unsere eigenen Gefühle haben wir dabei nicht gefunden. Wir lernen uns weder abzunabeln, noch was es bedeutet, ohne die Familie und unser zu Hause zu existieren.
Im Alter können wir dann auch keine Verluste ertragen, weil wir nicht gelernt haben, ohne etwas weiter zu leben, das wir verloren haben. Wir akzeptieren weder die Abnabelung unserer Kinder, noch den Verlust unserer Sehkraft oder die Tatsache, dass wir im Rollstuhl sitzen. Wir leben in Abhängigkeit zu anderen. Bei vielen Frauen ist die Folge, dass sie sich im Alter an ihre Kinder klammern sowie im Altenheim dann an das Pflegepersonal. Meist klagen sie über ihre Schmerzen und jammern über ihren Zustand und darüber, dass die Kinder zu wenig Zeit für sie haben. Sie fühlen sich immer allein gelassen.
Hier besteht die Aufgabe darin, Intimität zu lernen, in dem man eine enge Beziehung zu einem anderen Menschen aufbaut. Haben wir als Teenager unsere eigene Identität erworben, dann haben wir keine Angst, zurückgewiesen zu werden. Wenn wir uns selbst lieben, sind wir auch in der Lage, andere Menschen zu lieben. Haben wir aber in der Erfüllung der früheren Aufgaben versagt, können wir Nähe nicht zulassen und wollen Verletzungen nicht riskieren, oder werden uns in Abhängigkeit von anderen begeben. Wir haben Angst, verlassen zu werden, weil wir diese Erfahrungen vielleicht bereits in der Kindheit erlebt haben. Uns quält das Versagen aus der Kindheit, oder die Furcht aus der Teenagerzeit, abgewiesen zu werden. So halten wir uns von Fremden fern. An diesem Ballast haben wir bis ins hohe Alter zu tragen. Im Altenheim sitzen wir dann abseits, ziehen uns in uns selbst zurück und leiden unter dem schwindenden Hör- oder Sehvermögen.
Die fünfte
Aufgabe in der Lebensmitte besteht darin, sogenannte Schicksalsschläge zu
bewältigen. Wir müssen akzeptieren, wie der Körper sich verändert. Die Falten
werden tiefer, das Haar dünner und ergraut. Uns treffen Verluste, aber wir
bieten dem Leben die Stirn. Wir lernen zu trauern. Wir begreifen die
Endlichkeit und nehmen die Tatsache des Alterns an. Wir bewegen uns weiter,
vergrößern unser Lebensrepertoire und bilden uns weiter. Wir erkennen neue
Wege.
Halten wir aber an alten Verhaltensweisen, ausgedienten Rollen und unserem
Beruf fest und finden sonst keine Aufgabe, so sind wir eingesperrt. Nachdem die
Kinder aus dem Haus sind oder nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben sind wir
verzweifelt, weil wir keine neuen Aktivitäten entwickelt haben. Es kommt darauf
an, neue Wege zu finden: „Neue Schlüssel zu neuen Türen“. Stirbt der Partner,
können wir neue Freunde finden. Im Ruhestand haben wir zum Beispiel die
Möglichkeit, ehrenamtliche Aufgaben zu übernehmen.
Nach Erikson besteht die letzte Aufgabe darin, das Leben zu resümieren. In dieser Phase schaut man zurück und versucht herauszufinden, wer man war. Wir lassen die Vergangenheit Revue passieren, um die Zukunft vorauszusehen. Wir haben aus Fehlern gelernt und denken darüber nach, was wir hätten anders machen können. Wir denken an unerfüllte Träume und an Verluste.
Sehr alte Menschen, die sich Zeit ihres Lebens den Aufgaben gestellt haben, akzeptieren sich so, wie sie sind. Sie betrachten ihre Erinnerungen, ihre Entscheidungen und nehmen das Leben so an, wie sie es gelebt haben. Sie haben Integrität erlangt. Integrität im Alter heißt, die eigenen Stärken trotz Schwächen zu erkennen. Diese Menschen haben innere Stärke erlangt und erkennen den Sinn ihres Lebens, auch wenn sie den Ehepartner verloren haben, im Rollstuhl sitzen und im Pflegeheim leben.
Sind Gefühle aber ein Leben lang erfolgreich unterdrückt worden, dann gehen wir mit einer unerträglich werdenden Last ins Alter.
Die Statistiken zeigen, dass wir immer älter werden und nicht mehr früh an Krankheiten, wie Lungenentzündungen sterben werden. Da wir also wahrscheinlich das hohe Alter erreichen, kommt es darauf an, die Aufgaben der Lebensstadien zu bewältigen und sie auch im hohen Alter zu erfüllen.
Naomi Feil fügt in ihrem Buch „Validation“ dem noch ein letztes Stadium hinzu: Sie stellt die Theorie über noch ein weiteres, die des siebten Stadiums, auf.
Feil sagt: Die letzte Aufgabe im hohen Alter besteht darin, die Vergangenheit zu verarbeiten. Es ist die Aufgabe jenseits der Integrität, die des Verarbeitens statt des Vegetierens. Sehr alte Menschen, die mit ungelösten Gefühlen aus den früheren Stadien belastet sind, kehren immer wieder in die Vergangenheit zurück. Es ist nicht der bewusste Rückzug, wie der in Erikson´s sechster Phase. Es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, in Frieden sterben zu können. Da wir immer länger leben, wird es eine immer größer werdende Zahl von Menschen geben, die in dieses Endstadium des Verarbeitens geraten. Sie brauchen Menschen, die sich Zeit für sie nehmen, um ihnen zuzuhören. Ansonsten ziehen sie sich in das Vegetieren zurück. Sehr alte Menschen, die keine Stimulierung von der Umgebung erfahren, vegetieren im Altenheim vor sich hin. Ihre Gefühle werden bis zu ihrem Tod unverarbeitet bleiben. Werden die Gefühle aber ausgesprochen, zerstreuen sie sich. [20]
„Die alten Menschen mustern schmutzige Wäsche aus, die sich im Lagerhaus der Vergangenheit angesammelt hat. Sie sind damit beschäftigt, Ordnung zu machen.“ [Naomi Feil]
“Der sehr alte Mensch setzt den Verarbeitungsprozess fort und
bereitet sich darauf vor, in einem aufgeräumten Haus zu sterben.“ [NaomiFeil]
Kurt Witterstätter beschreibt die Aufgaben im Alter im seinem Buch Soziologie für die Altenarbeit wie folgt:
„Das Alter als die Endzeit des Lebens scheint, vordergründig betrachtet, eine Lebensphase zu sein, in der der Mensch nicht mehr expandiert, in der er keine Fähigkeiten und Möglichkeiten mehr hinzugewinnt. Eher scheint das Alter von Eingrenzung, von der Beschränkung von Möglichkeiten gekennzeichnet zu sein. Wachstum und Lernen werden allgemein den Stufen von Kindheit und Jugend zugeschrieben. Dies ist jedoch sehr verkürzt. Auch der alte Mensch hat Aufgaben. Es ist sogar von ganz typischen, dem Alter eigentümlichen und gemäßen Entwicklungsaufgaben die Rede:
· Selbstfindung trotz mancherlei Aufgabenverlusten – oder aber anders herum gedacht: Gerade wegen der Freistellung von Aufgaben in Betrieb, Familie und Vereinigungen bestehen Zeit und Abstand für Selbstfindungsprozesse;
· das Ziehen der eigenen Lebensbilanz;
· das Schließen von Frieden mit dem eigenen Lebensablauf, wie er sich vollzog und mit jenen Personen, die einem in diesem Leben nahe gestanden und eine Rolle spielten;
· Annahme des Lebensendes, das unweigerlich innerhalb einiger Jahre bevorsteht. [40]
Um das Vegetieren der Menschen im hohen Alter, die im Alten- und Pflegeheim untergebracht sind, zu vermeiden, müssen wir uns Zeit für sie nehmen. Wir müssen mit ihnen sprechen und ihnen helfen ihre Gefühle zu ordnen, um alte Erinnerungen zu verarbeiten. Das Erzählen und das Zuhören ist hier die Möglichkeit für die Alten ihr Leben zu resümieren. Nur so können sie in Ruhe sterben. Ich finde es wichtig, diese Menschen dabei zu unterstützen und ihnen Hilfe anzubieten. Ich glaube, dass ich selbst glücklich wäre, wenn ich im Alter jemanden hätte, der sich für mich und mein Leben interessieren würde. Jemanden, dem ich Geschichten aus meinem Leben erzählen kann, um es dadurch besser abschließen zu können. Aus diesem Grund habe ich mich mit dem Thema Erzählen intensiv auseinander gesetzt.
Bevor ich auf die Relevanz des Erzählens für alte Menschen näher eingehen werde, möchte ich mich erst einmal ganz allgemein mit dem Thema Erzählen beschäftigen.
Ich möchte nun erst einmal fragen, welche Bedeutung das Erzählen für Menschen im Allgemeinen hat und auch danach, wie wichtig Erzählen für Menschen in anderen Kulturkreisen ist und dann einen historischen Rückblick über Erzählen in Europa geben.
Erzählen ist eigentlich ein aktives Element des täglichen Lebens. Wir erzählen den Kindern Märchen vor dem Schlafengehen oder dem Psychiater auf der Couch unsere Probleme. Auch in der Therapie wird erzählt, worauf ich später im Kapitel F6 eingehen werde. Erzählen ist fester Bestandteil bei der Predigt in der Kirche und auch auf dem Beichtstuhl. In anderen Religionen, die weniger rationalisiert sind, als das Christentum, wird nur erzählt anstatt gepredigt. Manche Leute erzählen ihrem Friseur ihre Lebensgeschichte oder ganz alltägliche Begebenheiten. Im Wartesaal, auf dem Bahnhof, an der Haltestelle, im Bus oder im Zugabteil treffen die unterschiedlichsten Menschen zusammen und erzählen etwas von sich oder über „Gott und die Welt“. Auch im Wartezimmer beim Arzt werden meist Krankheitsgeschichten erzählt. Auch in der Familie wird bei Tisch, wenn sich alle Familienmitglieder versammeln, erzählt. Wenn wir von einer Urlaubsreise kommen, erzählen wir von Land und Leuten und den Abenteuern, die wir erlebt haben. Erzählt wird auch in der Kneipe, am Stammtisch sowie im Kindergarten und in der Schule. Auch im Altenheim und am Krankenbett wird erzählt.
Seit einiger Zeit wird zunehmend in Talkshows im Fernsehen erzählt. Dieses Bedürfnis, in der Öffentlichkeit Privatangelegenheiten zu erzählen, scheint sich immer mehr zu manifestieren. Allerdings geht es hier meist nicht darum, sich gegenseitig zuzuhören, sondern vielmehr wird gestritten, sich gegenseitig ins Wort gefallen und zum Teil werden, meiner Ansicht nach, niveaulose Beleidigungen verteilt. Menschen mit teilweise großen persönlichen Problemen öffnen sich in diesem Medium, ohne dass ihnen fachgerechte, professionelle Hilfe geboten wird. Durch diese Entwicklung kommt es bereits zu „Talkshowopfern“, die durch die Folgen der Sendung psychologischen Beistand benötigen. Die Offenbarung persönlicher Probleme im Fernsehen wird im Rückblick von vielen bereut. Nicht selten kommt es im nahen sozialen Umfeld zu Konflikten. Abschließend sollte man aber erwähnen, dass es auch seriöse Talkrunden gibt, in denen Menschen, weniger private Probleme aufdecken, sondern über interessante Ereignisse sprechen, diskutieren oder aus ihrem Leben erzählen.
Es gibt die unterschiedlichsten Gattungen von Erzählungen. Neben Alltagsgeschichten auch Abenteuer und Reisegeschichten. Auch Witze, Lügengeschichten, Märchen und Ausreden werden erzählt, sowie Anekdoten zum Besten gegeben. Neben Krankheitsgeschichten werden auch oft Unfallgeschichten und Missgeschicke erzählt. Am meisten wird wohl Biographisches erzählt. Es gibt traurige, lustige und interessante, sowie aufregende, ja sogar Angst einflößende Geschichten.
„Erzählen kann jeder, und jeder tut es täglich, oft, ohne es zu bemerken.“ [Johannes Merkel]
Eigentlich sind es alle gesellschaftlichen Gruppen, die erzählen. Kinder, Jugendliche, Erwachsene und alte Menschen erzählen genauso, wie Frauen und Männer. Entweder Freunden, Bekannten, Nachbarn, den Eltern bzw. der Familie wird erzählt oder aber in der Öffentlichkeit. Früher erzählte man mit der Nachbarschaft in der Spinnstube, heute gibt es zunehmend Erzählcafés. Professionelle Erzähler erzählen nach Erzähltradition bei Veranstaltungen, wie Erzählfestivals.
„Unsere Erinnerung ist ein Sack voller Geschichten. Sie schleichen sich in unsere Unterhaltungen ein.“ [Johannes Merkel]
Wie Johannes Merkel in seinem Buch „Erzählen tut jeder – Erzählen ist eine Kunst von einer fast unbekannten Textform“ erwähnt, ist es schwierig eine Geschichte, die man mündlich erzählt oder erzählt bekommen hat, aufzuschreiben. Geschichten leben von einer komischen Situation, deren Witz darin besteht, sie lebendig zu machen. Man erzählt Geschichten oder Anekdoten in Geselligkeit und ein anderer will noch „einen draufsetzen“. Durch einen kritischen Blick erkundet man, ob die Geschichten Anklang finden und ob man Aufmerksamkeit erwarten kann. Bereits nach den ersten Sätzen merkt man, ob die Geschichte greift. Geschichten, die mündlich erzählt, witzig klingen, entlocken aufgeschrieben kein müdes Lächeln. Man schreibt nie in dem Wortlaut, in dem man mündlich erzählt. Man verwendet im Mündlichen andere Redewendungen. Schriftliche Formulierungen stammen oft aus „ästhetischen Kategorien“.
Durch die Kombination mit Gesten erzählen sich Geschichten allmählich fast von selbst. Gesten ziehen Sätze nach sich und Sätze Gesten. [30]
Das Zuhören hängt ganz eng mit dem Erzählen zusammen. Erzählen ist ein dialogischer Vorgang des Mitteilens. Knut Hickethier beschreibt den dialogischen Prozess zwischen Erzähler und Zuhörer: Der Erzähler muss sich durch Blickkontakt auf den Zuhörer einstellen. Der Zuhörer ist nicht passiv. Er nimmt auf und vergegenwärtigt sich das Erzählte. Er macht deutlich, ob etwas interessant oder langweilig ist. Der Erzähler erfährt also auch etwas vom Zuhörer. Der Zuhörer beeinflusst den Erzähler. Das Erlebnis des Erzählers wird auch zum Erlebnis der Zuhörer. Die Geschichte wird über Betonung, Akzentuierung, Stimmveränderung, mimische und gestische Formen der Unterstützung beim Erzählen, dem Zuhörer vermittelt. Leuchtende Augen der Zuhörer, offene Münder der Selbstvergessenheit, Zwischenrufe und Nachfragen sind sprachliche und nichtsprachliche Signale der Zuhörer.
Erzählen ist doppelte Lust, die des Erzählens und auch die des Zuhörens. Zuhören fördert die Lust zum Gegenerzählen. Zuhören aktiviert Erinnerungen und fördert den Mitteilungsdrang. [Hickethier, K.: Vom Erzählen und Zuhöreren in [30]]
Elke Liebs beschäftigt sich mit dem Erzählen in der Therapie. Sie macht deutlich, dass Menschen, die Hilfe brauchen, das Gespräch suchen und einen Zuhörer brauchen. Aus der Lust und Freiwilligkeit beim spontanen Erzählen werden hier Notwendigkeit und Zwang. In der Therapie lernt der Erzähler sich selbst zuzuhören, und sich zu akzeptieren in seiner eigenen Individualität. Er erinnert, wiederholt und durchlebt durch das Erzählen. Beim Erzählen über sich selbst entwickelt sich eine neue emotionale Selbstwahrnehmung. Menschen werden ohne Ansprechpartner krank. Aus der zweckfreien Freude am Zuhören ist daher ein Beruf geworden. Es gibt Menschen, die erst in der Therapie lernen, wie befreiend und wichtig Erzählen ist. Sie sind im Erzählen gehemmt und verbinden mit Erzählen Schwatzhaftigkeit, sich wichtig machen, irrationale Gefühlsduselei und Zeitverschwendung. Das „Einfach-drauf-los-erzählen“ hat in unserer Gesellschaft eine nahezu negative Bedeutung. Es wird als etwas Primitives, Infantiles und Anarchisches angesehen. Erzählen wird heute in unserer Gesellschaft oft zeitlich determiniert, angeordnet, in einen fremden Zusammenhang gezwungen, bezweifelt, vor allem auch bewertet und protokolliert. Institutionalisierte Erzählmöglichkeiten gibt es in der Seelsorge, am Notruftelefon, in der Beratungsstelle und in der Sprechstunde oder Therapiestunde. [Liebs, E.: Natürliches Erzählen in der Therapie. In: [30]]
Der Vorteil des Erzählens gegenüber dem Vorlesen aus einem Buch ist, dass einem der Text beim Erzählen vertrauter ist. Liest man aus einem Buch vor, kennt man den Inhalt nicht so gut, da man ihn ja nicht selbst formuliert hat. Außerdem ist man mit den Augen beim Text und nicht beim Zuhörer. Der Blickkontakt kann nicht gehalten werden und der Reaktion der Zuhörer kann nicht soviel Beachtung geschenkt werden. Betonungen und Pausen erfolgen nicht immer an der richtigen Stelle. Das frei Erzählte hingegen hat Rhythmus durch die Strukturierung mit Pausen und Betonungen. In den Pausen kann das Erzählte beim Zuhörer ein Bild entstehen lassen, die Situation kann zur Wirkung kommen. Gezielter wird der Assoziationsraum durch Fragen des Erzählers, durch Aufforderung zur Bestätigung, Kommentierung und Ergänzung der Hörer.
Das Erzählen ist durch audiovisuelle Medien, wie Fernsehen oder auch durch Medien, wie Bücher und Radio, mehr und mehr abhanden gekommen. Diese Medien sind nur Einwegkommunikationen. Der Mensch kann nicht aktiv in die Geschichten eingreifen und sie mitgestalten. Die Gesellschaft ist aktiv als Käufer, Leser und Konsument, aber, im Hinblick auf das Erzählen, passiv geworden. Medien wie Fernsehen und Stereoanlage bleiben Medien. Sie stehen zwischen dem Erzähler und dem Hörer. Würden wir nur über diese Einwegmedien kommunizieren, würden wir uns unserer persönlichen und kollektiven Erfahrung berauben. In den letzten Jahren erfuhr das Erzählen wieder eine Aufwertung. Es wurde sozusagen wieder neu entdeckt, denn es hat den Vorteil des persönlichen Gegenübers, des menschlichen Umgangs, der Spontaneität und der Unmittelbarkeit. Das persönliche Erzählen ist die Grundlage allen medialen Erzählens, ob im Buch oder im Fernsehen. Das persönliche Erzählen hat den Vorteil, dass der Erzähler befragt werden kann, er ist sichtbar und greifbar. In anderen Medien verschwinden die Erzähler wieder und sind weder greifbar, noch kann man mit ihnen diskutieren oder ihnen Fragen stellen. Trotzdem kann auch das Fernsehen einen positiven Einfluss auf den Menschen haben, obwohl es meist gering geschätzt wird. Das Lesen eines Buches wird dagegen als unsinnig hoch bewertet. Dabei hat jedes Medium seine eigene Berechtigung. Das Fernsehen erfreut sich großer Beliebtheit und hat eine starke Wirkung, da es viele Sinne gleichzeitig anspricht. Oft befürchten Pädagogen durch das Fernsehen einen Verlust an Phantasie. Aber Phantasie ist nicht angeboren. Man kann sie erlernen und sie kann gefördert werden. Phantasie braucht Material und findet es auch unter anderem im Fernsehen. Frühere Wahrnehmungen werden in Teilen aufgenommen, mit anderen Erinnerungen aus Fernsehen, Comics, Büchern und selbst Erlebtem verbunden. Das, was Eindruck gemacht hat, bleibt zurück. Also auch Geschichten und Bilder aus dem Fernsehen tragen zur Förderung der Phantasie bei.
Bedenklich ist allerdings ein besinnungsloser Medienkonsum. Dazu kommt auch die Qualität der Filme, die gesehen werden. Erst wenn zum Beispiel der Fernseher Ersatzerzähler geworden ist, dann stellt er eine Einschränkung der Phantasie da. Schade ist es, wenn die Massenmedien uns überfluten und zum Ersatz des Selbsterlebtem und miteinander Erzählen werden. Das Erzählen ist eine Alternative zu anderen Unterhaltungsmöglichkeiten. Wir sollten dem Erzählen wieder mehr Beachtung schenken, um es nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. [30] [19]
Ich möchte nun verschiedene Kulturen und ihre Bedeutung zum Erzählen, sowie einen historischen Rückblick darstellen. Ich werde erläutern, warum erzählt wurde und noch erzählt wird.
Um deutlich werden zu lassen, wie wichtig, ja sogar lebensnotwendig, das Erzählen einmal war, oder teilweise noch sein kann, möchte ich gerne einige andere Kulturen und deren Erzählkunst vorstellen. Danach möchte ich einen kurzen historischen Rückblick zum Erzählen in Europa geben. Vielleicht ist dies auch ein Anstoß, um das Erzählen in unserer hochtechnisierten und rationalen Gesellschaft nicht ganz in Vergessenheit geraten zu lassen. Ich glaube, man kann von den sogenannten primitiven Völkern lernen und auch einiges in unsere Gesellschaft übernehmen, um den Alltag wieder etwas „wärmer“ und freundlicher zu gestalten und um das zwischenmenschliche Miteinander zu fördern.
Vor allem sollte man darüber nachdenken, wie unwichtig uns die Alten mit ihren Geschichten geworden sind. In anderen Kulturen sind Geschichtenerzähler meist aus der alten Generation. Die Jungen und die Alten verbringen ihre Zeit mit gemeinsamen Erzählungen und sie gehören einer gemeinsamen Gesellschaft an.
Bei den Eskimos und den indianischen Inlandsbewohnern Alaskas spielte das Erzählen eine wichtige Rolle bei vielen Anlässen.
Sie überlieferten sich Religion und Geschichte in Form von Erzählungen, die sie für wahr gehalten haben. Bei den Eskimos war es wichtig, Geschichten ernst zu nehmen, denn es wurden lebensnotwendige Erfahrungen über die Jagd, Hauswirtschaft und den Umgang mit anderen Menschen weitergegeben.
Regeln und juristische Zusammenhänge sind nirgendwo schriftlich festgelegt. Sie sind Thema der Erzählungen. Es kam darauf an, gut zuhören zu können, Geschichten ernst zu nehmen und selbst erzählen zu können.
Bei den Eskimos waren die Alten gut angesehen, sie galten als die Wissenden und die Jungen hörten ihren Geschichten zu.
Die Leute kamen ins Karigi (Gemeinschaftshaus) um Geschichten zu erzählen. Eskimogeschichten sprechen die visuelle Vorstellungskraft an, Wünsche der Hörer und Erzähler drücken sich in den Geschichten aus.
Die sogenannten Epen waren sehr lang und wurden über viele Abende erzählt. Meist fing der Erzähler früh, bei Anbruch der kalten Jahreszeit, an und sprach jeden Abend einige Stunden lang, so dauerten die Geschichten bis in den Frühling.
Ein weiterer Sinn des Erzählens war es einschläfernd zu wirken: „Einlullendes Erzählen“! Hier spricht der Erzähler im monotonen Redestil. Am Ende solcher Geschichten steht meist der Satz: „Nun ist der Winter wieder ein Stück kürzer“. Die Hauptaufgabe dieser Geschichten ist es, die Zuhörer zum Schlafen zu bringen. Das größte Lob für den Erzähler ist es, dass die Zuhörer seine Geschichten niemals zu Ende hören.
In der Winterzeit wird in einem Haus erzählt, in dem 10 – 15 Personen gemeinsam die kalte und schlechte Zeit verbringen. Man musste oft mit wenig Nahrung auskommen und war gezwungen im Haus zu bleiben, um möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Dann überwand man diese Zeit nur dadurch, dass man Geschichten erzählte.
Ein ganz anderer Erzählanlass ist das Sänger-Fest. Es findet dann statt, wenn es genug zu Essen gibt. Man schickt Boten los, um Menschen von weither einzuladen. Sie kommen dann für mehrere Tage zum gegenseitigen Erzählen und Singen. Bei den erzählenden Gesängen wird auch geschauspielert.
Wieder ein anderer Anlass ist der Sängerstreit. Verfeindete Männer entscheiden einen Streit durch ein „Duell mit Worten“, anstatt mit Fäusten oder Harpunen. „Das Duell mit Worten“ ist eine juristische Handlung in der Öffentlichkeit, bei der ein Streit ein für alle Mal entschieden wird.
Die Erziehung der Eskimokinder findet auch durch Erzählen statt. Tabus und Regeln werden erklärt und praktische Erfordernisse des Lebens vermittelt.
Geschichten waren entweder „Schlafmittel“ oder „juristische Plädoyers“.
Außerdem wurden bei den Eskimos auch Geschichten erzählt, um eine unfreundliche, karge Umgebung durch eigene Phantasie zu verändern und lebendig werden zu lassen.
Auch heute noch werden bei den Eskimos viele Geschichten erzählt, aber nur noch von den alten Leuten. [Nagel, M.: Und darum sind wir nicht unwissend. in: [30]]
In den schriftlosen afrikanischen Kulturen steht das mündliche Erzählen als wichtige Kunstform in hohem Ansehen.
„Wenn wir etwas hören, kommt es in unsere Herzen!“ –
„Unsere Herzen sind unsere Bücher!“
Zur Funktion der Geschichten:
Die afrikanischen Kinder werden durch die Geschichten belehrt und erzogen. Rechtsstreitigkeiten werden über das Erzählen ausgehandelt. Die Alten erklären den Jungen die Entstehung der sie umgebenden Kultur. Durch Geschichten begründet man die Gesellschaftsordnung des Stammens. Die Afrikaner vermitteln über die Erzählungen ihre eigene Geschichte.
Bei den Afrikanern hat das Geschichten erzählen vor allem auch einen Unterhaltungswert. Meist wird in der langen Trockenzeit viel zusammen gesessen und erzählt.
Bei den Limba erzählt man meist nach Sonnenuntergang. In der fruchtbaren Periode wird weniger erzählt, da man da meist auf dem Feld ist, um zu arbeiten.
Die beste Zeit zum Erzählen ist in Afrika bei Vollmond. Unter dem Licht des Mondes und der Sterne, beim Licht einer Öllampe oder am Feuer wird gerne erzählt. Geläufig ist auch der Zeitpunkt nach dem Abendessen, wo alle satt sind und die Dunkelheit anbricht.
Es gibt Geschichten, die über tausende Kilometer weit verbreitet sind und sie werden fast identisch erzählt. Dann gibt es aber auch Geschichten, die man nur in ganz bestimmten Volksstämmen antrifft.
In Afrika nehmen alle Generationen an den Erzählabenden teil. Die Jungen singen meist dabei vor sich hin, oder trommeln, oder machen Tanzbewegungen. Bei afrikanischen Völkern sind vor allem Rätsel weit verbreitet. So geben die Alten den Kindern oft Rätsel auf. Zuerst erzählt man einfache und kurze Geschichten. Danach geht man dazu über, lange, kunstvolle Geschichten zu erzählen, in denen Lieder und Chorgesang vom Erzähler angeführt und von den Zuhörern nachgesungen werden. Hatte jemand ein Erlebnis und ist darüber sehr aufgeregt oder aber vergnügt, dann fängt er einfach an, diese Geschichte zu erzählen, beginnend mit einer gebräuchlichen Eröffnung. Allmählich hören dann die Leute zu und es kommen immer mehr dazu, die dann auch den Erzählern mit Gesang oder Rede antworten. Ist die Geschichte abgeschlossen, beginnt einfach ein Anderer eine weitere Geschichte. Meist erzählt ein guter Erzähler direkt mehrere Geschichten hintereinander.
Die Kinder werden von den Eltern ermutigt, zu erzählen. Das Erzählen, verbunden mit Singen und Tanzen gehört zum täglichen Leben der Afrikaner und wird auch bei der Feldarbeit praktiziert. Sieht man zum Beispiel einen Besucher schon von weitem kommen, so begrüßt man ihn oft mit einem Tanz.
Das Erzählen gehört zu einer selbstverständlichen Art des sozialen Lebens. Die Art des Erzählens wird von den Alten überliefert und ist oft wichtiger, als der Inhalt der Geschichten. Wichtig ist nicht, dass der Inhalt vollständig richtig wiedergegeben wird, sondern es kommt den Zuhörern auf die Darstellung einzelner Szenen und ihre lebendige Darstellung an. Das Ende der Geschichte bestimmt der Erzähler. Entweder kommt am Ende eine Moral, dann hat die Geschichte einen erzieherischen, belehrenden Charakter, oder man lässt das Ende mit einer Frage offen stehen, dann wird sie zur Diskussion anregen. Manchmal lässt man sie auch zu einer Entstehungsgeschichte werden. Oft geht es um den Witz der Handlung und den guten Erzähler, der das Publikum durch Gestik, Mimik sowie Aktion mit verstellten Stimmen zum Lachen bringt. Die Zuhörer tragen durch Kommentare und Zwischenrufe zu der Geschichte bei. Sie werden mit in die Geschichte einbezogen, singen und antworten, wenn sie gefragt werden.
Auch am Tage werden Geschichten erzählt, dann allerdings nicht zur Unterhaltung, sondern um Sachverhalte oder Meinungen deutlich zu machen, wie zum Beispiel bei einem Rechtsfall, der vom Häuptling abgehalten wird. Auch Angeklagte werden durch Geschichten verteidigt. Um einen offenen Streit zu vermeiden, sagt man sich, auf indirekte Art und Weise, die Meinung: „Ich habe da mal von einem Mann gehört, der hat dieses oder jenes getan ...... , aber zur Strafe ........“ Statt dem Übeltäter den Fehler direkt vorzuhalten, sollte ein guter Redner erst lange in Gleichnissen „drumherum gehen“, wie die Limba sagen, um „den Weg zum Herzen des Mannes zu finden“. Die westafrikanischen Völker sind sehr diskussions- und redefreudig. Man bespricht alles im Detail und argumentiert hin und her. Alle verfolgen mit Interesse die dörflichen, öffentlichen Gerichtsverhandlungen. Jeder kann seine Meinung dazu sagen.
Mit dieser Diskussionslust hat noch eine besondere Art des Erzählens zu tun. Es sind Geschichten, in deren Verlauf sich eine Frage zuspitzt. Am Ende wird sie gestellt und die Zuhörer können sie lösen. Dadurch werden stundenlange Diskussionen ausgelöst. Diese sogenannten Gewissens-Rätsel gibt man auf, um das juristische Denken zu schärfen und um es zu ermöglichen, dass verschiedene Meinungen aufeinander treffen. Die Einsicht, dass es im Leben selten nur eine einfache Lösung gibt, wird so bei den Menschen wachgehalten.
Eine modere Art des Geschichtenerzählens sind die Märchenstunden des nigerianischen Rundfunks. Er richtet sich vor allem an die Kinder.
Kinder erzählen auch untereinander Geschichten, zum Beispiel während der Regenzeit, wenn sie im Haus bleiben müssen. Das Erzählen ist sogar zum Unterrichtsfach in der Schule geworden. Die Kinder erzählen im Schatten eines Baumes, wenn es sehr heiß ist. Geschichten mit didaktischer Richtung, also Belehrungen darüber, was richtig und falsch ist, richten sich nicht nur an die Kinder. Es wird keine strikte Trennung zwischen den verschiedenen Lebensaltern gemacht. Auch bei den langen Erzählnächten sitzen die Kinder bei Vollmond als Zuhörer zwischen den Alten. Ein Unterschied im Inhalt der Geschichten wird bei den Limba für Jung und Alt nicht gemacht. Man findet nur einen Unterschied über den Inhalt in den verschiedenen Gesellschaftsschichten, nicht aber in den Altersstufen. In elitären Kreisen der Nigerianer wären erotische Geschichten unerhört. Bei dem einfachen Volk ist dies ganz natürlich, die Erotik ist kein Tabuthema. In den Erzählungen nimmt man „kein Blatt vor den Mund“. Während man in Europa die Kinder wegen Jugendgefährdung aus dem Zuhörerkreis nehmen würde, sitzen sie dort wie selbstverständlich dabei.
Die Bini, ein Volk in Benin in Nigeria, haben zwei charakteristische Arten von Geschichten. Die „Ibota“ und die „Okhpobhie“. Die „Ibota“ bedeutet Verlängerung des Abends. Anlass für die Geschichte ist ein festliches Ereignis in der Familie. Sie wird nach dem Abendessen erzählt. Anlass kann auch sein, dass jemand wieder gesund geworden ist, das man einen guten Handel am Tage gemacht hat, oder aber es ist Besuch gekommen. Hier erzählen vor allem die Frauen, die sehr viele Geschichten kennen, und sie sehr gut erzählen. „Ibota“ besteht nicht nur aus Geschichten, sondern auch aus Rätseln. Man unterhält sich auch über alltägliche Begebenheiten und Neuigkeiten. Die Übergänge werden mit Liedern gefüllt. Die Zuhörer singen mit.
Das Gegenstück zu „Ibota“ ist „Okhpobhie“. Es heißt übersetzt: „Trommeln, während andere schlafen“. Man trifft sich im gleichen großen, öffentlichen Raum, dem „Ikun“. Teilnehmer sind ebenfalls die Familie und Gäste. Hierzu lädt man einen professionellen Erzähler ein, der Helfer und einige Musikinstrumente mitbringt. Der „Okhpobhie“ dauert die ganze Nacht, bis in den nächsten Tag hinein. Anlass ist ein bedeutendes Ereignis, wie zum Beispiel eine Hochzeit, ein Gedenktag für die Vorfahren oder eine Geburt. Nach einer ausführlichen formalen Eröffnung beginnt der Erzähler mit einer Geschichte, die ca. 12 bis 18 Stunden dauert. Erzählt werden Epen aus lang zurückliegender Zeit von Stammenshäuptlingen, ihren Kämpfen, Liebschaften und magischen Helfern. Der Erzähler begleitet die Geschichte mit seiner Laute. Die professionellen Erzähler haben vor Beginn der Kunst einen etwa zweijährigen Erzählunterricht bei jemandem aus der Familie durchlaufen, meist bei den Ältesten. Sie bauen die Instrumente selbst, lernen darauf zu spielen und prägen sich traditionelle Geschichten ein. Die Zuhörer sind während der Vorstellung gut gelaunt und tanzen. Erzähler führen ihre Kunst auch deshalb aus, um sich von eigenen, quälenden Gedanken zu befreien und um schlechte Gedanken zu töten. Die Anwesenheit eines professionellen Erzählers gibt einer Feier eine zusätzliche Wichtigkeit.
In der afrikanischen Kultur gehört es zur Höflichkeit, jemanden nicht in eine leere Schweigsamkeit hineinreden zu lassen. Das Publikum beteiligt sich durch Zwischenrufe, Tanz und eigenes Erzählen. Das Erzählen ist eine hochentwickelte Kunstform bei den sogenannten „primitiven“ Völkern und gehört als fester Bestandteil zur gesamten Lebensweise und ist auch heute noch anzutreffen! [Nagel, M.: Sieh, damit wir sehen. in [30]]
An der Nordküste Taiwans liegt ein kleines Städtchen namens Luodong. Im „Club zum langen Leben“ treffen sich allabendlich ein paar alte Männer. In diesem Club sind die Ehrenplätze den Alten vorbehalten. Sie trinken Tee, diskutieren Erinnerungen und pflegen die traditionelle Erzählkunst.
Die Geschichten, die erzählt werden, brachten chinesische Siedler im 17. und 18. Jahrhundert mit nach Taiwan. In den Großstädten und auf dem Festland war das Erzählen Teil der Unterhaltung in Vergnügungsvierteln und wurde von professionellen Erzählern ausgeübt.
In Taiwan entwickelte sich eine eher private Form. Im 19. Jahrhundert entstand die Taiwanoper. Hier sind Elemente dieser alten Erzählform wieder zu finden. In Taiwan treten Erzähler außerdem in Teehäusern, am Eingang einer Gasse oder in einem Park auf. Die Geschichten sind klassische Legenden, Episoden aus der Umgebung, Ungewöhnliches oder von religiösem Inhalt. Im Gegensatz zu der Oper ist weder der Text noch der rituelle Ablauf vorgeschrieben.
In Luodong hat sich eine Erzähltruppe als Verein eintragen lassen und den Nudelsuppenverkäufer vom Park zum Vorsitzenden gewählt, da er allen Leuten des Ortes bekannt ist. Die Erzähler proben lange, verwenden Kostüme und Make-up und bemühen sich viele Musiker auf die Bühne zu bekommen. Geschichten, Mythen und Legenden wurden seit der Han-Zeit gesammelt und aufgeschrieben (Han-Zeit = Beginn unserer Zeitrechnung). Damals schickte der Kaiser besonders dafür beauftragte Beamte zum einfachen Volk, um deren Erzählungen zu sammeln. So informierte sich der Hof über Sitten, Gebräuche und Gedanken der Menschen. Diese Geschichten galten dem Kaiser nur zur Informationsvermittlung. Die gebildeten Beamten gaben den Geschichten keinen hohen Stellenwert und nannten sie „kleines Gespräch“. Diese gesammelten Geschichten werden noch heute erzählt. [Proksch, B.: Das kleine Volkstheater. in: [30]]
Es gibt umfangreiches Textmaterial aus der frühen Tradition chinesischer Erzählkunst. Dies ist der Entdeckung von Schriftrollen im Jahre 1900 in Dunhang zu verdanken. Dunhang liegt im Westen der heutigen Provinz Gansu und war lange Umschlagplatz auf dem Handelsweg zwischen China und dem Westen. Die Schriftrollen stammen aus dem 6. und 8. Jahrhundert und blieben über die darauffolgenden Jahre verschollen.
Der Zweck der Erzählungen war die Mission und Bekehrung der Menschen zu Buddha. Sie hatten einen moralischen Unterton mit einer religiös- erzieherischen Absicht. Sehr typisch war die Vermischung der reinen buddhistischen Lehre und dem chinesischen Volksglauben. Beliebt war die Erzählkunst der Mönche. Sie wurde bald auch von weltlichen Erzählern aufgegriffen.
Bald handelten die Erzählungen der weltlichen Künstler von Nichtreligiösem. Inhalt waren Legenden aus früheren Dynastien, die man versuchte, anschaulich darzustellen. Man findet einen Wechsel von Prosa, Gedichten und Liedern, der sich bis heute erhalten hat.
Spätere Geschichtenerzähler schöpften aus den umfangreichen Erzählungen aus der Song-Dynastie Material. In dieser Dynastie gab es Wohlstand und Überfluss und die Geschichtenerzählung blühte.
In allen Teilen Chinas haben sich über viele Jahrhunderte die gleichen Inhalte der Geschichten erhalten. Zur Zeit der Mongolenherrschaft im 14. Jahrhundert verschwanden Vorführungen und Textbücher über Geschichten gingen verloren. Der Kaiser begab sich aber von Zeit zu Zeit nach Shang-Dong, um dort Geschichten zu hören. Erzähler fuhren auf dem See, um von dort aus die Zuschauer mit einfacher Volkserzählung und Singen zu unterhalten.
Später fanden dann wieder unzählige Aufführungen im Freien und in Aufführungshäusern für ein gemischtes Publikum statt. Allen erzählten Geschichten lag die gleiche Moral zugrunde: Schlechtes wurde bestraft, und Gutes im Sinne der konfuzianischen Ethik belohnt. Die Geschichten beinhalteten Handlungsweisen der eher einfachen Menschen. Jede Provinz Chinas hat seinen eigenen Erzählstil entwickelt.
In China maß man den Geschichten einen großen Einfluss auf die Menschen zu. Die eine Geschichte sollte man nicht hören, wenn man jung ist, weil man dann kämpferisch wird. Die andere nicht, wenn man alt ist, weil man davon listig wird. Dies galt nach herrschender Moralvorstellung als negativ. Kinder wurden häufig zu Geschichtenerzählern geschickt, wenn sie ungezogen waren. Eindeutig war in den Geschichten immer die Trennung von Gut und Böse. Die Eltern erhofften sich dadurch eine erzieherische Wirkung.
Allerdings verachtete man von Seiten der Gebildeten die Geschichten. Diese Art von literarischer Kunst wurde immer negativ bewertet, aber gleichzeitig entschuldigte man die Popularität als notwendige Erziehung des Volkes.
Während der Kulturrevolution waren die Geschichtenerzähler fast ganz von den Straßen verschwunden. Aber seit einigen Jahren sind sie in China wieder sehr verbreitet. Die alten Geschichten wurden wieder lebendig und es sind neue hinzugekommen. [30]
In Tokio gibt es acht Varietés, in denen professionelle Erzähler auftreten. Es ist eine Kombination aus moderner und traditioneller Erzählkunst. Professionelle Erzähler lernen in ihrer Jugend viele Jahre bei einem Meister das Erzählen. Sie üben durch Nachahmung und Wiederholen die Geschichten ein. Während der Veranstaltungen gibt es einen traditionell festgelegten Rahmen. Die Erzähler übernehmen verschiedene Rollen in einer Geschichte. Der Erzähler spricht durch ein Mikrofon, während ungefähr 300 Zuschauer auf Kissen, der Vorstellung beiwohnen und grünen Tee trinken. Die Erzähltheater sind tagtäglich, das ganze Jahr über, bis auf drei Tage vor Neujahr geöffnet. Die Vorstellungen finden vom Mittag bis zum Abend und nach einer kurzen Pause dann wieder bis zum späten Abend statt und sind alle immer sehr gut besucht. Neben den Geschichtenerzählern treten auch Jongleure und Sänger auf. Der japanische Erzähler trägt ein bestimmtes Kostüm, ein Kimono mit Schärpe, die Farbe hängt von der Jahreszeit ab. Die Erzähler benutzen bestimmte Requisiten: Ein quadratisches Tuch und einen zusammengelegten Fächer. Mit dem Fächer würden sich die Erzähler niemals Luft zufächeln oder mit dem Tuch die Stirn abwischen. Denn die professionelle Etikette verurteilt jedes Zeichen von Lampenfieber und persönlicher Schwäche. Dies wird als Zeichen mangelnder Disziplin gedeutet. Der Fächer und das Tuch werden zur Darstellung von bestimmten Gegenständen in der Geschichte eingesetzt. Die Beherrschung der Technik und die Selbstdisziplin erfordern eine lange Lehrzeit. Die Erzählungen dauern bis zu zwanzig Minuten. Der Erzähler tritt ohne Schuhe auf und läßt sich auf einem Kissen nieder. Die schauspielerischen Möglichkeiten sind auf Gestik und Mimik des Gesichts und der Hände begrenzt. Dem Schluß einer Geschichte wird eine besondere Bedeutung beigemessen. Kenner ordnen eine Geschichte nach Art des Schlusses ein. Es gibt zwölf verschiedene Arten des Schlusses. Die Zuschauer müssen sofort das Ende erkennen und klatschen. Das Ausbleiben dieser Reaktion bedeutet einen katastrophalen Fehlschlag für den Erzähler. Viele Zuschauer kommen, um sich am „Schluß“ ihres Lieblingserzählers zu erfreuen.
Die tagtäglich sehr gut besuchten Erzählvorstellungen zeigen, wie stark das Bedürfnis nach dem Hören von Geschichten ist. Das Erzählen wird in Japan hoch geachtet. [30]
Der klassische indische Tanz ist eine Art des Erzählens in Indien. Er ist vielfältig und schön anzusehen und nicht nur in Indien beliebt.
Er hat seinen Ursprung im 4. vorchristlichen Jahrhundert. Er wurde ursprünglich für Menschen verfasst, die nicht lesen konnten. Sie sollten durch Hören und Sehen Zugang zu religiösen Überlieferungen bekommen. Die Grundstruktur ist bis heute wenig verändert worden. Es entwickelten sich nur ort- und zeitbedingt verschiedene Tanzstile. Der Tanz wurde damals auch als eine Art des Gebets angesehen und vorwiegend in Tempeln aufgeführt. Früher tanzte man für Gott, später dann für das Publikum. Am Hof und im Tempel genossen die Tänzer hohe Anerkennung. Sie wurden großzügig von den Königen unterstützt.
Nach einem Rückschlag im letzten Jahrhundert, als der Tanz im Ansehen stark sank, gewinnt er heute wieder mehr an Bedeutung. Er hat weltweit Beliebtheit errungen. Junge Leute aus vielen Ländern erlernen die Kunst, die ihr altes Niveau fast wieder erreicht hat.
Der klassische, indische Tanz besteht aus reinem Tanzen und aus dem Tanzdrama, bei dem durch gesprochene Worte erzählt wird. Der moderne, klassische Tanz ist eine Art des Erzählens. Kostüme, Make-up und stilistische Handgesten tragen zum Erzählen bei. Der Tanz erzählt über Götter, Heldentaten und Geschichten aus der indischen Mythologie. Themen sind vor allem Liebe, Sehnsucht der menschlichen Seele nach Übermenschlichem, Loblieder für Könige und am häufigsten die mythologische Darstellung Krishnas.
Mit dem Gesicht zeigt die Tänzerin die Gemütszustände. Die Tänzerin übernimmt abwechselnd die Rollen der einzelnen Personen, die in der Geschichte vorkommen. Mimik, Darstellung und Interpretation ist der Phantasie der Tänzerin überlassen. Sie muss allerdings, die für die Gestik vorgeschriebenen und erlernten Handgesten benutzen; insgesamt sind es vierundsechzig. Da Rhythmus, Melodie und Ausdruck harmonisch kombiniert sind, ist es eine der schönsten Erzählarten. [Ramesh, R.: Krishna zeig´ Dein Gesicht! in [30]]
Im Winter wurde in ganz Europa, wenn die landwirtschaftliche Arbeit pausierte, zu den verschiedensten Anlässen in den dörflichen Gemeinschaften erzählt. Noch um 1930 gab es im Münsterland Erzählkreise, bei denen Nachbarn an den langen Winterabenden zusammenkamen. In Ungarn hielten sich die Erzählkreise bis in die 50er Jahre. Beliebter Versammlungsort war das Haus eines guten Erzählers. In den meisten Dörfern waren die erzählenden Dorfgemeinschaften vor allem zwischen 1880 und 1910 sehr aktiv. Zuhörer kamen sogar aus den Nachbardörfern. In der großen Stube erzählten sie den ganzen Winter hindurch. Die Frauen saßen zum Spinnen zusammen, es wurde gestrickt und genäht und die Männer erzählten Geschichten. Bei den Arbeiten halfen sich die Nachbarn untereinander: Federnschleißen, Flachshecheln, Mais ausschälen und abkernen und Rübenschneiden. Bei den Zusammenkünften erzählte man Geschichten oder unterhielt sich über Vorfälle und Ereignisse im Dorf oder über die Arbeit. Erzählt wurde meist von allen Anwesenden rundherum. Witze, Spukmärchen, Schwänke, Sagen und auch Märchen wurden erzählt. Gefragt waren kurze und abwechslungsreiche Beiträge. Nur bei langwierigen, ermüdenden dörflichen Gemeinschaftsarbeiten bestand Interesse an langen Erzählungen. Oft lud man einen ganz besonders guten Erzähler ein, um damit freiwillige Helfer anzulocken und diese bei Laune zu halten.
Besondere Bedeutung hatte das Erzählen für Saisonarbeiter, meist Häusler, die zuwenig Land hatten, um davon leben zu können. Im Sommer gingen viele Bauern aus deutsch-ungarischen Dörfern auf Erntearbeit zu herrschaftlichen Großgrundbesitzern in der Umgebung. Die Felder waren viele Kilometer weit entfernt und die Bauern blieben oft wochenlang aus. Sie bauten sich für die Nacht große Zelte auf, während sie den ganzen Tag über arbeiteten. Abends wurde am offenen Feuer in einem Kessel das Essen gekocht. Beim Kochen und Essen sangen und erzählten sie jeden Abend sehr lange.
Dadurch, dass sie den ganzen Tag über hart arbeiteten und lange von ihren Familien getrennt waren, blieb ihnen das Erzählen als einzige Abwechslung, um in ihrem tristen Alltag zu bestehen.
Die Schwabengängerei war eine Sommerauswanderung der armen Kinder aus den Talschaften des Vorder- und des Hinterrheins. Die Kinder verließen zu Hunderten, geführt von sprach- und wegekundigen Frauen und Männern, um Sankt Joseph (19. März) ihre Dörfer und zogen in die Bodenseegegend. Sie arbeiteten dort auf Bauernhöfen bis gegen Martini (11. November). Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Schwabengängerei weit verbreitet. Für die Kinder hatte das Erzählen auf dem langen Weg eine große Bedeutung. Es half ihnen die lange Reise, Strapazen und das Heimweh zu erleichtern.
In waldreichen Gegenden arbeiteten die Männer im Winter als Holzfäller. Bei den „Szekler“-Holzfällern war besonders das Märchenerzählen weitverbreitet und beliebt. Die Lohnarbeiter der „Szekler“-Holzfällerunternehmen arbeiteten seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts den ganzen Winter über im Wald. Die Männer übernachteten nach dem Essen zu 50 bis 60 Personen in Hütten. Das Märchenerzählen hatte für diese Männer eine existenzielle Bedeutung. Für sie war das Märchen unentbehrlich und bedeutete für sie geistige Nahrung. Sie kamen nur selten nach Hause und ohne das Märchenerzählen konnten sie ihre Situation nicht aushalten. Die Erzähler wurden sehr geehrt und mit Zigaretten und anderen Kleinigkeiten dazu ermuntert in den Abendstunden vor dem Einschlafen zu erzählen.
Die Bauern in Ungarn arbeiteten zur Zeit des verstärkten Städte- und Fabrikbaus im Baugewerbe. Ganze Dörfer gingen, um als Erdarbeiter, Straßenbauer und Mauergehilfen zu arbeiten. Sie arbeiteten fast ihr Leben lang und schliefen in Baracken, die neben der Arbeitsstelle lagen und erzählten sich zum Einschlafen Geschichten. Die Arbeiter brauchten die Märchen, um sich von den täglichen Anstrengungen zu erholen. Erzählt wurden meist lange Zaubermärchen von anerkannten Erzählern. Häufig wurde auch tagsüber während der Arbeit erzählt.
Auch Seeleute, Fischer und Soldaten in den Kasernen erzählten sich Geschichten zur Unterhaltung und um sich vom meist harten Alltag abzulenken.
Auch in Gefängnissen wurde trotz Verbot erzählt. Im Arbeitssaal mit bis zu 80 – 90 Leuten durfte kein Wort gesprochen werden. Meist saßen 10 – 20 Leute an einem Tisch, um zu arbeiten. Die Gefangenen erzählten heimlich mit ganz leiser Stimme, denn das Erzählen ist ein Grundbedürfnis des Menschen.
Zigeuner erzählten zu vielen Gelegenheiten Märchen. Abends zum besseren Einschlafen, bei der Arbeit, um diese zu erleichtern, bei Festen zur Unterhaltung und auf Wanderungen. Auf ihren Wagen saßen 9 – 10 Zigeuner, von denen einer eine Geschichte erzählte. Die Märchen wurden vor allem deshalb erzählt, um die langen Reisen der Zigeuner zu überbrücken.
Die Bergleute aus „Kisatyán“ mussten 12 Kilometer zu Fuß gehen, um ihre Arbeitsstelle zu erreichen. Sie brachen mitten in der Nacht mit einer Lampe auf, damit sie um sechs Uhr mit der Arbeit beginnen konnten. Auch sie erzählten regelmäßig auf ihrer nächtlichen Wanderung. Hier war das Erzählen auf dem langen Weg zur Unterhaltung und Ablenkung notwendig. Dies lenkte sie vom anstrengenden Marsch ab und sorgte dafür, dass die „Zeit schneller verging“.
Wohlhabende Bauern erzählten sich beim Trinken Anekdoten, aber über die langen Zaubermärchen lachten sie nur. Der Bauer wollte etwas „Wahres“ hören, eine historische Erzählung oder das, was in der Zeitung steht. Lügengeschichten waren hier unbeliebt. Das Märchenerzählen war weniger im Dorf bei den Bauern Tradition, sondern besonders bei den Landproletariern, Tagelöhnern, Knechten, Fischern, Seeleuten und Soldaten war es während der Arbeit oder danach zum Ausruhen sehr wichtig. Im Märchen wurden die Lebensverhältnisse der armen, ländlichen Bevölkerung qualitativ kaum unterschiedlich von den feudalen Zuständen geschildert. Märchen wurden vor allem auch deshalb erzählt, weil dort für die Menschen ein besseres Leben vorstellbar war.
Erzähler kamen damals viel herum. Sie gehörten zu kleinen ländlichen Handwerkern und zogen durch das Land, um Arbeit als Schuster, Schneider, Holzhauer, Wegmacher und Zimmerer zu suchen. So zogen sie von Hof zu Hof und erzählten. Das Repertoire dieser Erzähler war sehr umfangreich. Sie konnten 100 – 200 Märchen erzählen. Sie wurden irgendwo gehört, nach und nach gelernt und behalten. Die Erzähler gestalteten die Märchen aktiv. Sie vermochten die gegenwärtige Situation, die Erwartungen der Zuhörer und die eigenen Erfahrungen in die Märchen mit einzubeziehen. Sie wurden immer wieder neu und fernab von Texttreue vorgetragen.
Andere Erzähler sind Soldaten gewesen und haben in den Kasernen Märchen und Geschichten kennen gelernt, behalten und dann weiter erzählt.
Dann gab es noch die „Umgeher“. Das waren wandernde Erzähler, die sich das Essen und die Unterkunft mit Erzählen verdienten. Es waren Pinklkrämer, Bündelkrämer, Bettler, Landstreicher und Zigeuner. [Schmidt, J.: De kann usen Härgott un’n Dübel annenleisen in [30]]
Es wird von Zigeunerfamilien aus Russland berichtet, die aus dem Kölderaschas kamen. Sie erzählten zum Beispiel während der Arbeit Märchen, in dem jeder Familienangehörige eine Erzählrolle übernahm. Es ging dramatisch dabei zu. Es kamen immer mehr Personen hinzu, die auch Rollen spielten. Den Zuhörern, die den ganzen Tag arbeiteten, kam die ausdrucksstarke Mimik, Gestik und die Anschaulichkeit durch Körpersprache entgegen. So mussten sie nicht so sehr aufpassen, wenn sie müde waren. Oft waren sie es auch nicht gewöhnt, sich selbst verbal zu äußern.
1920 regte die Leiterin einer Londoner Schule die Wiederbelebung der keltischen Bardentradition an. An fast jeder Bibliothek in Großbritannien gibt es Auftritte von Erzählern. Fast jede Kinderbücherei in England hat regelmäßige Erzählstunden. Es finden Erzählwochen und unzählige Erzählaktionen statt.
Das Erzählen für Kinder in Großbritannien entstand an einem ganz bestimmten Wochentag: dem puritanischen Sonntag. Er galt als ein sehr ruhiger, nach innen gewandter Tag. Bis in dieses Jahrhundert wurde Kindern an diesem Tag das Spielen verboten, sie wurden mit Geschichten ruhig gehalten. Die Erzählungen waren meist Mythen und Sagen.
Früher waren Erzähler nur Bibliothekare, heute erzählen auch andere Menschen, wie Lehrer, Sozialarbeiter und Schauspieler unter anderem in Ferienerzählprogrammen. Heute werden Geschichten auch auf Sportplätzen, in Parks, Freibädern und auf Spielplätzen sowie in isolierten Wohnblocks erzählt. Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene „hungern“ nach den Geschichten. [30]
Ich glaube, dass wir in den „weiterentwickelten“ Industrieländern, die weitgehend rationalisiert sind, von den sogenannten „primitiven“ Völkern etwas lernen und übernehmen können.
Auch bei uns könnte das Erzählen wieder mehr ins Leben gerufen
werden, um dem zwischenmenschlichen Miteinander im Alltag wieder mehr Bedeutung
zukommen zu lassen.
Auch sollte dem Erzählen, als Medium zum Lehren, wieder mehr Beachtung
geschenkt werden. Wert und Normvorstellungen, Informationsvermittlung sowie
kulturelle und gesellschaftliche Aspekte können von Alt zu Jung übergeben
werden.
Die Erzähl- und Sprachkultur der Kinder könnte wieder mehr gefördert werden und
somit helfen, Erzählhemmungen zu überwinden, um einen eigenen Sprachstil zu
erwerben. Dies ist für Kinder, die in unserem Kulturkreis überwiegend mit
technischen Medien konfrontiert werden, wichtig, um ihre Defizite in diesem
Bereich auszugleichen. In Afrika ist das Erzählen zum Schulfach geworden und
könnte auch bei uns wieder mehr in den Unterricht mit einbezogen werden, vor
allem auch in den weiterführenden Klassen, da es dort besonders vom Ausdruck in
Schriftform verdrängt worden ist. In der Schule ist die Vermittlung der
Lehrinhalte für Kinder über Geschichten weit aus bildhafter und verständlicher
als das didaktische Fachbuch. Lehrinhalte, verpackt in einer Geschichte, prägen
sich besser ein. Geschichten fördern auch die visuelle Vorstellungskraft der
Kinder.
Auch das „einlullende“ Erzählen der Eskimos kann man in unsere Gesellschaft
übertragen. Es wäre möglich, dass sich mehrere Menschen am Abend zusammenfinden,
um zur Unterhaltung, zur Gemütlichkeit und zum besseren Einschlafen, vor allem
auch für die Kinder, erzählen. So verhindert man Isolation von einzelnen
Kleinfamilien und nimmt sich Zeit für die Bedürfnisse der Kinder. Erzählen
schafft für Kinder nicht nur Geborgenheit, sondern über Geschichten werden auch
Menschenkenntnis, Sensibilität für Problemlagen oder Lebenssituationen geweckt
und das Erzählen sowie das Zuhören kann gelernt werden.
Das Erzählen als Kunstform, so wie es in anderen Kulturen allgegenwärtig ist,
kann auch unsere Gesellschaft kulturell bereichern.
Beispielhaft ist auch die Konstellation der Altersstufen während der Erzählaktionen
in den dargestellten Völkern. Alt und Jung sitzen nah beieinander und die Alten
sind als Geschichtenerzähler bei der jungen Generation sehr angesehen. In
unserer Gesellschaft wird bei der Freizeitgestaltung stark zwischen den
Lebensaltern unterschieden. Hier kann man auch von den Völkern lernen, da sich
verschiedene Generationen nicht nur bereichern können, sondern auch Ausgrenzung
verhindert werden kann.
Streitigkeiten, die in anderen Kulturen durch Diskussionen bereinigt werden,
trägt man in weiterentwickelten Industrieländern häufig vor Gericht aus, obwohl
viele Konflikte schon durch Gespräche geklärt werden könnten.
Auch kann man im historischen Rückblick erfahren, dass das Erzählen häufig über
Krisensituationen, Alltagsstress, lange Reisen, Heimweh, Isolation und andere
Belastungen hinweggeholfen hat. Auch heute noch könnte es uns bei der
Überwindung verschiedener Probleme helfen.
Die Eskimos erzählen auch, wie bereits erwähnt, um ihre karge und triste Umgebung
mit Phantasie bunt zu gestalten. Menschen, die sich in unserer Gesellschaft
vorübergehend oder auch dauerhaft in einer erlebnisarmen oder tristen Umgebung
befinden, zum Beispiel im Krankenhaus oder im Altenheim, können sich über
Erzählungen durch visuelle Vorstellungskraft in eine andere, wärmere und
buntere Phantasiewelt hineindenken.
Früher gehörte das Erzählen zum Rüstzeug des Lehrers. Lernziele wurden in Geschichten verpackt und so wurde kindgerecht gelehrt. Heute gibt es mehr fachdidaktische Bücher, die Wissen vermitteln. Aber immer noch gehört das Erzählen zu einer „Grundform des Lehrens“.
Erzählen dient auch in vielen Kulturen dem Transfer von Erfahrungen, besonders von Alt zu Jung. Welche Bedeutung das Erzählen in anderen Kulturen hat und in der Vergangenheit hatte, habe ich bereits im Kapitel G - Die Bedeutung des Erzählens in anderen Kulturen ausführlich dargestellt.
Erzählen überwindet Isolation. Es ist soziales Handeln. Es ist unterhaltsam und es verbindet den Erzähler mit dem Zuhörer.
Die Menschen erzählen um sachliche Informationen mitzuteilen.
Derjenige, der erzählt, steht im Mittelpunkt, alle hören ihm zu und nehmen teil an dem was er sagt.
Oft erzählt man auch etwas, was einen bedrückt und man möchte es „sich von der Seele reden“. Wenn ich etwas erzähle, was mich belastet, dann werde ich es los. Ich bekomme mehr Abstand dazu und kann es besser bewältigen.
Erzählen bedeutet jemandem etwas mitteilen, etwas, was einen selbst betrifft. Man möchte, dass ein anderer es jetzt auch weiß.
Es ist unterhaltsam, gemütlich und macht Spaß.
Erzählen ist fester Bestandteil unseres Alltags. Es ist sprachliches Handeln und hat eine lebenspraktische Bedeutung. Durch das Erzählen wird mitgeteilt und auch verändert. Es entwirft Veränderungen.
Der Erzählende ist aktiv, er tritt aus der Isolierung oder aus der Passivität heraus. Sitze ich in einem Zugabteil, so bin ich passiver Reisender und halte mich anonym. Sobald ich vor den anderen Fahrgästen etwas sage oder erzähle, sind alle Blicke auf mich gerichtet und ich trete aus der Anonymität heraus.
Das Erzählen ist Verständigung